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Prof. Dr. Markus M. Müller hat seit 2009 die Honorarprofessur für Politik- und Verwaltungswissenschaften inne. In seinen Forschungsschwerpunkten befasst sich Müller mit den Regierungssystemen Deutschlands, der USA, Großbritanniens sowie mit Internationaler Politik, insbesondere international vergleichender Wirtschaftspolitik.
Man kann, wie es in der politischen Ökonomie propagiert wird, den Wahlakt ähnlich einer Kaufentscheidung auf dem freien Markt verstehen. Parteien treten dabei als Anbieter auf, Wähler sind die Nachfrager. Der langfristige Erfolg einer Partei auf diesem „Markt“ hängt nicht allein von der Güte des Angebotes an Politik und Politikern ab. Er ist zugleich ein Ausweis erfolgreicher Gründung, Gründungsfestigung, Entwicklung eines dauerhaften Geschäftsmodells sowie Aufbau organisatorischer Stärke. Davon abgesehen sind die Spielregeln des politischen Marktes von entscheidender Bedeutung. Namentlich das Wahlrecht, die Regelungen der Parteienfinanzierung oder der über mediale Berichterstattung mehr oder weniger vorteilhaft gestaltete Weg zur Wählerschaft und zu anderen für Parteien relevanten Anspruchsgruppen entscheiden über langfristige Erfolgschancen.
Neue Parteien sind also wie Unternehmensgründer. Zu deren Chance, langfristig, also „robust“ im Markt zu reüssieren, gibt es eine jahrzehntelange Forschungstradition. Die Erklärungen für Verbleib versus Scheitern im Markt reichen von Aspekten wie Technologieführerschaft und Innovationskraft über Fragen der Kapital- und Gesellschafter- beziehungsweise Entscheiderstrukturen bis hin zur Rolle staatlicher Anreiz- und Unterstützungsangebote. Wenig davon ist für die konkrete Übertragung auf den politischen Markt der Parteien geeignet, wie nicht zuletzt die FDP mit ihrer „Strategie 18“ vor etwa 15 Jahren lernen musste – zugegeben unter den etwas anderen Vorzeichen einer etablierten Partei, die sich damals als Volkspartei neu erfinden wollte.
Parteineuformierungen wie etwa die Grünen, die Republikaner, der Bund freier Bürger, die Statt- und die Schill-Partei, die AfD oder auch die Piraten werden – zunächst und für die ersten Jahre – als Protestpartei wahrgenommen. Da historisch gesehen die meisten nicht nachhaltig reüssierten, bleibt die Wahrnehmung dabei stehen. Dabei ist der Protestbegriff weit gefasst: Er zielt auf den bewussten Kontrast zu Konsenspositionen der Etablierten, namentlich der Union und der SPD.
Doch was bedeutet diese Sicht für unser Allgemeinverständnis der Parteien in Deutschland? Die traditionelle faktische Dominanz von SPD und Union wird von vielen nicht nur als empirische Zustandsbeschreibung zur Kenntnis genommen. Sie wird im politischen Diskurs zu oft als normativ-faktische Konstante verstanden, als oftmals unbewusste Vorstellung von einem „normalen“ Grundzustand unseres Parteiensystems.
Im Kern stammt diese Sicht aus den 1960er-Jahren, als ein Zweieinhalb-Parteien-System mit CDU/CSU, SPD und FDP entstand und sich bis in die 1980er auch in den Landtagen verfestigte. Mit dem dauerhaften Erfolg der Grünen erhielt die FDP einen Konkurrenten in ihrer Funktion als Mehrheitsbeschaffer, und Heiner Geißlers „Lagertheorie“ entstand. Die Linke als hauptsächlich ostdeutsche Regionalpartei kam nach der Wiedervereinigung noch hinzu, ohne aber Geißlers Theorem grundlegend in Frage zu stellen. Allerdings hat sich die Mehrheitsfindung erschwert, in ostdeutschen Landtagen freilich auch in ganz neue Bahnen gezogen.
Tatsächlich gibt es keinen wie auch immer zu verstehenden Normalzustand des Parteiensystems - und gab es nie. Eine erkennbare Präsenz von kleinen Parteien in deutschen Parlamenten – einschließlich Bundestag – gab es schon zu Beginn der Bundesrepublik. Die Konzentration der 1960er- und 1970er-Jahre, die mit einer Versäulung und weitreichenden Konsequenzen für die deutsche Bundesstaatlichkeit einherging, ist im chronologischen Längsschnitt keineswegs als zwangsläufig und insofern „natürlich“ zu interpretieren.
Mit den Piraten etwa war vor allem ein interessantes neues politisches Geschäftsmodell am Start, das klassische Nachteile von Parteineugründungen zu überwinden schien. Namentlich die organisatorische Kapazität, die vielen Neugründungen in den ersten Jahren fehlt, und zu einer Erstarrung der Gründungseliten in oligarchischen Strukturen zu führen droht, sollte mittels einer Involvierung der Wählerschaft über die digitale Vernetzung virtuell erschaffen werden. „Liquid democracy“ wurde das Stichwort der Stunde. Wenn die Digitalisierung einen ähnlichen Quantensprung wie die Erfindung des Buchdrucks bedeutet, verändert sie nicht nur Industrien, Kommunikationsformen und die Geschwindigkeit aller Arten von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen, sie verändert auch die Qualität von Gesellschaft und Politik. Medienzugang wird ein frei verfügbares Gut, Wahlkampagnen und Wählermobilisierung können von wenigen angestoßen werden – oder aber wie spontane, sich selbst erzeugende Phänomene entstehen. Die Transaktionskosten von Politik sinken dramatisch, das erste Opfer sind die Zeitungen. Das gibt neuen Parteien neue Chancen, schnelle Wahlerfolge zu erzielen. Damit ist der erste Schritt zum Erfolg getan. Auch wenn er ihn noch nicht auf Dauer garantiert.
Die Diskussion um die Robustheit von Parteigründungen sollte zunächst darauf verzichten, Normalzustände des Parteiensystems vorauszusetzen. Das bedeutet freilich auch, dass keine etablierte Partei davon ausgehen kann, ihre relative Position vergangener Jahrzehnte reklamieren zu können. Weder die vermeintliche Stabilität der Grundfesten unserer Parteiendemokratie noch die politische Kultur der deutschen Gesellschaft erlauben solches Denken. Die Ära der überragenden Zwei-Parteien-Dominanz ist lange vorbei, nicht nur in Deutschland.
Auch künftig gehören gutes Personal, solide und interessante Ideen und ein langer Atem im Umgang mit Erfolgen und Misserfolgen fraglos zu den Voraussetzungen für robustes Parteiüberleben. Aber die Vorstellung von einem Zustand „Normal-Null“ im Parteiensystem ist anachronistisch. Überraschungen sollten permanent erwartet werden.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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| Erik Möller / Eigenes Werk (Gemeinfrei)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Markus M. Müller
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm