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Veronika Caspers studierte von 1986 bis 1992 Anglistik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung an der Universität Bonn und an der Ohio University in Athens, Ohio. In Bonn promovierte sie zum Thema politische und religiöse Rhetorik. Sie arbeitet heute freiberuflich als Dozentin, unter anderem an der Berufsakademie Ravensburg, und als Sprachkoordinatorin an der Zeppelin Universität. Zu ihren Interessen gehören Sprachgeschichte, Semantik und Pragmatik.
Mit der vorliegenden Arbeit unternimmt ZU-Fremdsprachen-Fachfrau Veronika Caspers einen Versuch, Bob Dylans Buch Tarantula (1971) einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen. Die Veröffentlichungen zu Werken Bob Dylans, auch die wissenschaftlichen, beschränken sich weitgehend auf seine Liedertexte und schließen Tarantula bei ihren Analysen aus. Darüber hinaus scheinen Untersuchungen zu Dylans Texten überwiegend von Literaturwissenschaftlern vorgenommen worden zu sein; sprachwissenschaftlich orientierte Arbeiten ließen sich bisher nicht finden. Eine Untersuchung der sprachlichen Formen von Tarantula ist jedoch naheliegend, da in diesem Buch fast durchgängig und auf unterschiedlichen Ebenen ungewöhnliche bzw. bizarre Strukturen konstruiert worden sind. Es wird in der folgenden Arbeit nur auf einige ausgewählte Arten der Anomalien eingegangen werden können. Das Ziel ist es, deren Zustandekommen und den Grad ihrer Abweichung vom Standardenglischen darzustellen. Abschließend wird versucht, die Auswirkungen, die diese Abweichungen auf die Verständlichkeit des Textes haben, zu bewerten. Zum Weiterlesen können Sie eine Neuauflage des Buches jetzt online erwerben.
Bob Dylan ist mehr als „Blowin´ in the Wind“ oder „The Times They Are a-Changin'“. Bob Dylan ist ein Phänomen, das einen, wenn es einmal Besitz von einem ergriffen hat, nicht mehr loslässt und durch das ganze Leben begleitet. So ist es mir ergangen.
1986, in dem Jahr, in dem ich Abitur gemacht habe, las ich Tarantula zum ersten Mal – und wusste, dass ich darüber meine Examensarbeit schreiben will. Und das, obwohl ich das Studium noch gar nicht begonnen und keine klare Vorstellung davon hatte, was da auf mich zukommen würde. Dass ich überhaupt auf das Buch gestoßen bin, lag daran, dass der wahre Fan sich eben für alles interessiert, was es von einem Künstler gibt.
Als ich mit meinem Themenwunsch zu meinem Betreuer, Professor Dr. Friedrich W. Gester von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, kam, schien er mir anfangs etwas skeptisch zu sein. Seine Reaktion werde ich nie vergessen: „Sie meinen den mit dem Hut?“ Aber er hat das Thema angenommen, was ich ihm bis heute hoch anrechne! Das Schreiben der Arbeit selbst gestaltete sich dann mehr als schwierig, denn es gab keine einzige sprachwissenschaftliche Arbeit zu Bob Dylan, auf die ich hätte zurückgreifen können – und zu Tarantula gab es auch nichts. Also hatte ich nur eine Möglichkeit – entweder mir fiel eine Analyse oder Interpretation ein oder das Blatt blieb leer. Ich erinnere mich noch an erhöhten Schokoladenkonsum während der nächsten Monate. Dennoch wurde die Arbeit fertig, auch wenn sie zu einem kritischen Bild der Sprache in Tarantula kam – aber damit war Bob Dylan nicht aus meinem Leben verschwunden.
Der Titel, den die Arbeit eigentlich bekommen sollte und den sie jetzt hat, war ein Zitat aus Tarantula: „how come youre so afraid of things that dont make any sense to you?“ Ich bezog diese Frage damals auf das Buch selbst: Warum Angst haben vor einem Text, der keinen Sinn ergibt? Die Aufgabe meiner Arbeit war dann, diesen „Sinn“ – in der Bedeutung von „Verständlichkeit“ – zu finden. Und nach den Maßstäben, die ich anlegte, war er nicht da und ist es immer noch nicht. Aber ist das – frage ich mich noch heute – eigentlich der Maßstab, den man an einen Künstler wie Bob Dylan anlegen sollte? Er selbst hat die Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit seines Werkes nie in den Vordergrund gerückt.
Für mich ist die Frage „how come youre so afraid of things that dont make any sense to you?“ zu einer Leitfrage des Lebens geworden: Warum fürchten wir uns generell vor allem Neuen, Fremden, das für uns keinen Sinn ergibt? Woher kommt unser Verlangen, dass alles sinnhaft sein muss?
Wir sind immer stärker mit Veränderungen konfrontiert – in der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft und unserem Arbeitsleben. Sie verlangen von uns einen hohen Grad an Flexibilität und Reflexion sowohl des eigenen Handelns als auch des Handelns anderer. Und wir suchen in diesen Veränderungen einen Sinn, versuchen, Bezüge zu unserem Weltwissen herzustellen. Aber müssen wir das überhaupt? Muss alles um uns herum „Sinn ergeben“? Zeigt nicht Tarantula, dass ich auch etwas produzieren kann, das keinen Sinn zu ergeben scheint? Etwas, das zwar im Moment bizarr erscheint, aber im Rückblick auch andere Sichtweisen zulässt und dessen Sinn sich nicht auf den ersten Blick erschließt?
Wie die Reaktionen in den Medien zeigen, ist auch die Vergabe des Literaturnobelpreises an Bob Dylan mit einer „Sinnfrage“, das heißt „Verständnisfrage“ verknüpft. Der Literaturnobelpreis für einen Musiker, dessen Texte nicht von seiner Musik getrennt werden können (oder sollten)? Seit wann sind Liedertexte denn überhaupt Literatur? Können alle Liedertexte Literatur sein oder nur bestimmte? Wenn ja, welche? Was genau ist eigentlich Literatur? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Ist Bob Dylans Werk Literatur im gleichen Sinne wie die Werke von Thomas Mann oder – um bei amerikanischen Preisträgern zu bleiben – von William Faulkner, Ernest Hemingway, John Steinbeck und Toni Morrison (wo sein Werk doch so ganz anders ist)? Und was hat es zu bedeuten, dass er nicht zur Preisvergabe kommt?
Heinrich Detering (zum Beispiel Bob Dylan, 2009), seit 2011 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, verweist immer wieder auf die Verwurzelung von Bob Dylan in der Weltliteratur. Vorlesungen wie seine im Sommersemester 2016 an der Georg-August-Universität Göttingen über „Bob Dylan und die Weltliteratur“ waren 1992, als ich meine Arbeit zu Tarantula schrieb, undenkbar. Und auch wenn man diese Verwurzelung und die Anspielungen an Shakespeare, mittelalterliche Mysterienspiele und die Beat Poets nicht entdeckt und die Texte lediglich in ihrer Komplexität auf sich wirken lässt: Dass die Texte heutiger Musiker vielschichtig sind, ist eine Entwicklung, die auf Bob Dylan zurückgeht. Diese Vielschichtigkeit ist – inmitten aller Anomalien – auch in Tarantula zu finden (zugegeben, man muss nach Aussagen suchen, die nicht zu bizarr sind, um sie zu entdecken): „there are only three things that continue: Life – Death & the lumberjacks are coming“ (Bob Dylan, Tarantula, 124). Humor hatte Dylan immer schon.
Wenn wir etwas von Bob Dylan lernen können und sollten, dann ist es Folgendes: nichts als gegeben anzusehen, sondern immer mit etwas Neuem, Anderen zu rechnen. Dylan ist unberechenbar und unvorhersagbar. Wer zu seinen Konzerten geht, kann nicht sicher sein, dass er die gespielten Lieder wiedererkennt. In Dylans Werk findet sich eine Vielzahl von Musikstilen und -richtungen: Folk, Rock, Country, Weihnachtslieder, Songs von Frank Sinatra – immer, wenn man denkt, man kennt seinen Stil, kommt etwas Neues. Aber ist es nicht im Leben auch so? Wir erwarten etwas und es kommt ganz anders? Wie John Lennon sagte: „Life is what happens to you while you´re busy making other plans“. Irgendwie hätte das auch von Bob Dylan sein können.
Die Gewissheit, dass alles Planen nur bis zu einem gewissen Grad funktioniert und dann doch Dinge geschehen, deren Sinn wir nicht nachvollziehen können, kann uns auch gelassen machen. Es kommt anders, als wir wollen, planen, erwarten und hoffen. Aber: „It´s Alright, Ma (I´m Only Bleeding)“. Selbst Schmerz ist relativ. Dadurch, dass Dylan unsere Erwartungen permanent nicht erfüllt, fordert er von uns eine Flexibilität und Offenheit, die es uns generell erleichtern kann, das Leben zu meistern.
Und er kann die Erfahrungen, die wir selber machen, auf unnachahmliche Art und Weise ausdrücken wie beispielsweise in „Simple Twist of Fate“. Und so wie Oscar Wilde Sprüche für fast jede Lebenslage hat, gilt dies auch für Bob Dylan. Wer von uns, der einmal einen nahestehenden Menschen verloren hat, kennt nicht dieses Gefühl: „When you think that you lost everything You find out you can always lose a little more.”
Danke, Bob.
Titelbild:
| Xavier Badosa / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text:
| WikiImages / pixabay.com (CC0 Public Domain)
| Bill Ingalls / NASA.gov (CC0 Public Domain)
| Francisco Antunes / flickr.com (CC BY 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Veronika Caspers
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm