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Seit 2009 leitet Prof. Dr. Marcel Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften an der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an der Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er zu Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften.
Die Geldpolitik ist immer für Überraschungen gut. Aber das, was der indische Ministerpräsident Narendra Modi Mitte November veranlasste, war dann doch ein Coup, der seinesgleichen sucht: Ohne Vorwarnung ließ er in einer Nacht- und Nebelaktion alle 500- und 1.000-Rupienscheine entwerten, ein plötzlicher Entzug von nahezu 85 Prozent des gesamten Bargeldumlaufes in Indien. Die Entscheidung wurde seitens der indischen Regierung damit begründet, dass dies notwendig sei, um Korruption und Schattenwirtschaft, die in Indien für ungefähr 20 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung stehen, zu bekämpfen. Aber es schien auch klar zu sein, dass die indische Regierung in Richtung einer bargeldlosen Volkswirtschaft steuern wollte. Denn es konnten zwar vier Wochen lang bei Banken alte Scheine – meist gegen Aufnahme von Personalien – in neue umgetauscht werden, aber der Prozess war langwierig und schlecht organisiert, so dass der indische Finanzminister folgerichtig die Menschen aufrief, möglichst den elektronischen Zahlungsverkehr zu nutzen.
Ist also der Überraschungscoup in Indien der erste Schritt eines „globalen Krieges gegen das Bargeld“? So titulierte jedenfalls die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem kürzlich erschienenen Artikel. Denn auch andere Staaten zeigen Interesse am indischen Vorgehen, es häufen sich zudem in verschiedenen Ländern Einschränkungen im Gebrauch von Bargeld. Doch warum sollte man überhaupt das Bargeld bekämpfen?
Interessanterweise gehen die zuletzt umgesetzten Bargeldeinschränkungen einher mit einer lebhaften aktuellen Diskussion in den Wirtschaftswissenschaften zu den Vor- und Nachteilen einer bargeldlosen Wirtschaft. Prominente Ökonomen wie Larry Summers, Joseph Stiglitz und insbesondere Kenneth Rogoff plädieren für die schrittweise Abschaffung des Bargeldes. Neben den üblichen Begründungen wie die Bekämpfung von Kriminalität, Schwarzgeld und Korruption bringen diese Ökonomen aber auch noch ein geldpolitisches Argument ins Spiel, welches gerade in der heutigen Zeit Relevanz hat. Bargeld nimmt, wie beispielsweise Rogoff konstatiert, einer Notenbank zentrale Steuerungsmöglichkeiten, wenn die Wirtschaft wie derzeit in einer Phase mit schon sehr niedrigen beziehungsweise teilweise leicht negativen Zinsen noch zusätzlich in eine schwere Krise gerät. Eigentlich müsste dann die Zentralbank die Zinsen weiter senken, um positive Impulse zu setzen, was aber nicht möglich ist. Sparer würden nämlich bei stark negativen Zinsen die Banken stürmen und ihr Geld abheben. Ein solches Zinsniveau könnte nicht durchgesetzt werden, der geldpolitische Impuls würde verpuffen.
Stiglitz geht in seinem Begründungsrahmen sogar noch weiter. Er argumentiert, dass die aggregierte Nachfrage der Wirtschaft über den Kreditschöpfungsprozess direkter und damit effizienter in Marktwirtschaften gesteuert werden kann, wenn das gesamte Finanzsystem auf einem elektronischen Zahlungsverkehr fußt und damit Bargeld auch seine Tauschmittelfunktion eingebüßt hat. Die Mengensteuerung würde dann besser funktionieren als die Zinssteuerung, die nur sehr indirekt wirkt, Volatilitäten der Volkswirtschaft wären reduziert und der Finanzsektor könnte sich weniger Renten, also Gewinne aneignen.
Die Befürworter von Bargeld argumentieren dagegen, dass dessen Abschaffung den Weg in einen Überwachungsstaat vorzeichnet. So schütze Bargeld die Menschen vor Überwachung und Kontrollverlust im Umgang mit Ausgaben, es bewahre Freiheitsrechte in einer sowieso schon zu stark reglementierten Welt. Auch die Sicherheitsaspekte in Bezug auf den rein elektronischen Zahlungsverkehr seien nicht gelöst: Es wäre nicht möglich, ein solches Geldsystem vollkommen gegen Cyberangriffe abzusichern.
Wie fällt nun die Bilanz des indischen Experiments im Lichte dieser Diskussion aus? Ein endgültiges Fazit kann noch nicht gegeben werden, dafür ist der betrachtete Zeitraum zu kurz. Es sieht allerdings so aus, als hätte die Bargeldreform nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Korruption und Schattenwirtschaft sind, so konstatieren Beobachter, nicht wesentlich zurückgegangen, was aber noch fataler ist: Am stärksten haben in der Übergangsperiode die Armen gelitten, denn sie konnten im Gegensatz zu den wohlhabenderen Schichten das fehlende Bargeld nicht substituieren – und Zugang zu elektronischem Zahlungsverkehr haben diese Menschen auch eher nicht. Die gesamte indische Wirtschaft hat durch die zwischenzeitliche Trockenlegung des Bargeldbestandes wohl ungefähr 1 Prozent Wachstum verloren. Da liegt es nahe, dass die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten am stärksten getroffen wurden. Das indische Experiment scheint die Ungleichheit im Lande noch erhöht zu haben.
Anders sieht es in den skandinavischen Ländern aus. Dort wird aus freien Stücken kaum mehr Bargeld genutzt. Aber dort haben auch fast alle Menschen Zugang zum elektronischen Zahlungsverkehr und sowohl das gegenseitige Vertrauen als auch das Vertrauen in den Staat ist groß. Es sind wohl diese Rahmenbedingungen, die Bargeld obsolet machen können.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Marcel Tyrell
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm