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Prof. Dr. Dietmar Schirmer ist Vertretungsprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europäische Institutionen, zuvor hatte er die Vertretungsprofessur für Empirische Policy-Forschung an der Zeppelin Universität inne. Nach dem Studium in München und Berlin sowie der Promotion in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, lehrte er an der Freien Universität Berlin, der Cornell University, der Universität Wien sowie der University of British Columbia und der University of Florida. Er war außerdem Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. und ist Mitglied der American Political Science Association und des Council for European Studies.
Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der historisch-institutionalistischen vergleichenden Politikwissenschaft und der politischen Kulturforschung. Gegenwärtige Forschungsprojekte befassen sich mit dem Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und regionalen Minderheitennationalismen in der EU sowie mit der Staatsarchitektur Europas seit der Renaissance.
Das internationale Staatensystem präferiert Stabilität über Wandel, insbesondere was den territorialen Zuschnitt der Systemelemente anbetrifft. Dennoch ändern sich Grenzen laufend: Alte Staaten vergehen (DDR!), neue entstehen (Georgien!), Territorien gehen von der Kontrolle durch einen Staat in die Kontrolle eines anderen Staates über (Krim!). Im 20. Jahrhundert entsprangen die meisten neuen Staaten der üppig sprudelnden Quelle der Entkolonialisierung, als Afrika und große Teile Asiens den Weg zur Eigenstaatlichkeit fanden. Gegen Ende des Jahrhunderts öffnete sich eine zweite reiche Quelle für neue Staatsgründungen, als sich die Sowjetunion in ihre zwei Dutzend Republiken zerlegte und die jugoslawischen und tschechoslowakischen Ethnoföderationen zerfielen. Von den postkolonialen Staaten haben nicht alle überlebt: Das mehrheitlich muslimische Indien spaltete sich als Pakistan vom mehrheitlich hinduistischen Restindien ab, um sich später selbst zu häuten: Aus Ostpakistan wurde Bangladesch. Der Sudan zerfiel kürzlich in einen nördlichen und südlichen Teil; der unmittelbare Anlass war ein Streit über die Kontrolle von Ölvorkommen. Gut getan hat es weder dem Norden noch dem Süden: Beide finden sich in der Spitzengruppe des Fragile State Index.
Unter bestimmten Umständen findet sich das internationale Staatensystem recht bereitwillig mit jenen territorialen Änderungen ab, die es eigentlich eher vermeiden möchte. Das ist so, wenn staatliche Um- oder Neugründungen Teil der Friedensordnung am Ausgang eines Krieges sind, wenn die unmittelbar beteiligten Staaten einverstanden sind oder wenn etwa das Sezessionsstreben einer nationalen Minderheit durch das unerträgliche Verhalten des Staates sanktioniert wird, von dem sie sich lossagen möchte. Bei allem Konservatismus möchte die internationale Staatengemeinschaft keiner Gruppe zumuten, sich der Bewahrung bestehender Grenzen wegen ethnischen Säuberungen oder dem Genozid auszusetzen. Deswegen etwa wurde die Selbständigkeit des Kosovo hingenommen – wenngleich nicht von allen. Zur UN-Mitgliedschaft hat es bislang noch nicht gereicht.
Nun zu Katalonien, zu Spanien – und zur EU. Fangen wir mit der an: Der Präsident der Region Katalonien, Carles Puigdemont, hat seine Entschiedenheit beteuert, demnächst die katalanische Unabhängigkeit zu erklären. Vom superschnellen Fahrplan, wie er noch am Tage des Referendums verkündet worden war, ist man zwar etwas abgerückt, aber flott soll es dennoch gehen. Und ja, die EU möge erstens vermitteln und zweitens sich hinreichend kritisch zur harten Linie der Zentralregierung in Madrid äußern. Ähnliche Stellungnahmen findet man bei vielen Kommentatoren, die dem katalanischen Begehren ganz oder eher positiv gegenüberstehen.
Egal, was man von der Regierung in Madrid und ihrem Handling der Causa halten mag – sehr wenig, in meinem Falle –, das Ansinnen, dass sich die EU in das katalanisch-spanische Kuddelmuddel einmischen möge, ohne von der spanischen Regierung darum gebeten worden zu sein, ist Zeugnis eines tiefen Unverständnisses gegenüber Konstitution und Funktionsweise der Union. Entweder das – oder es ist infam. Spanien ist ein Mitgliedstaat der EU und damit eines ihrer konstituierenden Elemente. Die EU verfügt über keinerlei Mandat, sich mit Fragen der inneren territorialen Struktur ihrer Mitglieder auch nur zu befassen; ihr einziger positiver Hebel betrifft Fragen des Schutzes nationaler Minderheiten gegenüber Diskriminierung, etwa hinsichtlich ihrer Rechte auf Sprache und Kultur – und die sind, nach jedem denkbaren Maßstab, im Falle der Katalanen gesichert.
Die EU hat in der Vergangenheit tatsächlich Gutes getan, was die Autonomie nationaler Minderheiten anbetrifft, die Teile größerer Staaten sind, wenn auch auf sehr indirekte Weise. Jedenfalls kann man beobachten, dass Flamen und Wallonen, Schotten, Waliser und Nordiren, die Regionen Italiens (sowohl die autonomen wie die „normalen“) genauso wie die Frankreichs (wo es am keltischen Rand durchaus auch Minderheitennationalismen gibt), die spanischen Basken, Galizier, Navarresen, Andalusier und eben auch die Katalanen heute über sehr viel mehr Selbstbestimmungsrechte verfügen als vor 20, 40 oder 60 Jahren. Im gleichen Zeitraum, in dem sich der Spielraum für die regionale Autonomie staatenloser Nationen innerhalb der EG/EU erheblich vergrößert hat, ist er übrigens außerhalb der EU bei ansonsten vergleichbaren Konstellationen gesunken.
Der positive Effekt, den die europäische Integration auf die Autonomierechte nationaler Minderheiten gehabt hat, beruht aber fundamental darauf, dass die EU im gleichen Maße, indem sie es ihren Mitgliedstaaten erleichtert, Autonomie zu gewähren, ihnen gleichzeitig eine Art Versicherungspolice ausstellt, dass solch beschränkte Autonomierechte nicht in Richtung Sezession driften. Diese Versicherungspolice besteht in dem Veto, mit dem ein durch Sezession beleidigter und beschädigter Mitgliedstaat die Aufnahme des neuen Sezessionistenstaates in die EU verhindern kann, sowie in der sicheren Annahme, dass im Sezessionsfall kein anderer Mitgliedstaat und keine der EU-Institutionen dem sezessionsbedrohten Mitgliedstaat in den Rücken fällt.
Die EU wird also den Teufel tun, das Sezessionsbestreben Kataloniens – oder irgendeiner anderen Region auf der Suche nach Eigenstaatlichkeit – zu unterstützen. Die Ausnahme wäre der Fall der gütlichen Scheidung im beiderseitigen Einverständnis (der hätte etwa vorgelegen, wenn das schottische Unabhängigkeitsreferendum von 2014 erfolgreich gewesen wäre, und er könnte in der Zukunft vorliegen, wenn die belgischen Flamen und Wallonen eines Tages entscheiden sollten, dass das bisschen Belgien, das noch übrig ist, den Aufwand auch nicht mehr lohnt). Insofern hinkt der Verweis auf Schottland, den Kritiker der passiv-abwartenden Haltung der EU gerne anführen. Ebenso hinkt der Vergleich mit Polen oder Ungarn, zwei Fälle, in denen Brüssel wegen vermuteter Verstöße gegen das EU-vertraglich abgesicherte Rechtsstaatlichkeitsprinzip Verfahren eingeleitet hat. Ein Recht auf Unabhängigkeitsreferenda für nationale Minderheiten kennen die EU-Verträge hingegen nicht.
Gelegentlich haben Unterstützer der katalanischen Unabhängigkeit gar den Kosovo bemüht, um der EU vorwerfen zu können, sie messe mit zweierlei Maß. Dieser Vergleich hinkt nicht, er ist schlicht gehunfähig. Es sind keine Fälle bekannt, wo Katalanen von kastilisch-nationalistischen Spaniern aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben oder umgebracht wurden.
Womit wir bei den Katalanen wären. Das Referendum hat eine überwältigende Mehrheit für die katalanische Eigenständigkeit ergeben – allerdings bei wenig überwältigender Beteiligung. Unter den mir bekannten Umfragen ist keine, die eine Mehrheit für ein unabhängiges Katalonien ergeben hätte, obwohl sich die Zahlen in den vergangenen etwa zehn Jahren in Richtung eines Patt entwickelt haben. Die letzten Umfragen vor dem Referendum lagen bei etwa 45 Prozent pro Unabhängigkeit. Das tölpelhafte Vorgehen der Regierung in Madrid vor, bei und nach dem Referendum mag das geändert haben, aber ob das von Bestand ist, muss sich zeigen.
An dieser Stelle ein kleiner Einschub: Selbst wenn eine solide Mehrheit der Katalanen für die Unabhängigkeit wäre, ließe sich daraus nicht umstandslos ein Recht auf Sezession ableiten. Denn das Ausscheiden Kataloniens aus dem spanischen Staat betrifft ja keineswegs nur die Katalanen, sondern auch die übriggebliebenen Spanier, die ihren Rest-Staat ohne die Beiträge seiner wohlhabendsten Region würden weiterführen müssen. In einer Demokratie sollen bekanntermaßen diejenigen an Entscheidungen beteiligt werden, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Das hieße im Falle eines Sezessionsbegehrens: alle Bürger des Staates (gegebenenfalls repräsentiert durch deren demokratisch legitimierte Repräsentanten – also nicht unbedingt ein gesamt-spanisches Referendum über die katalanische Unabhängigkeit, aber etwa eine Kombination aus einem Referendum in Katalonien und einer parlamentarischen Abstimmung in Madrid).
Jedenfalls sollte man nicht vergessen, dass es sich bei den Katalanen keineswegs um eine unterdrückte nationale Minderheit handelt: Ihre Region ist die reichste des Landes; die kulturellen Rechte der Katalanen sind gesichert; sie sind keiner Diskriminierung wegen ihrer Nationalität ausgesetzt. Die Autonomierechte Kataloniens sind vergleichbar mit oder übersteigen das Maß an Selbstregierung, das die kleineren Einheiten – States, Länder, Kantone, Provinces – in klassischen Föderalstaaten wie den USA, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Kanada oder Australien genießen. Wenn es davon gerne noch mehr hätte, ist daran nichts Verwerfliches – daraus aber ein Recht oder einen moralischen Anspruch auf Sezession abzuleiten, ist albern. Dass der katalanische Nationalismus gerade in den vergangenen, krisengeschüttelten Jahren den spanischen Staat als ein Völkergefängnis erkannt hat, gibt dem Ganzen den faden Beigeschmack, dass es vor allem halt doch ums Geld geht – und damit um einen Akt der Entsolidarisierung mit den weniger gesegneten Regionen des Landes. Die bayerische Landesregierung meckert ja auch am Länderfinanzausgleich herum, aber sie droht deswegen nicht mit der Abspaltung.
Bleibt die spanische Regierung unter Ministerpräsident Rajoy. Man tut ihr nicht Unrecht, wenn man ihr attestiert, dass sie mit unverantwortlicher Härte, ungewöhnlicher Tölpelhaftigkeit und in großer Verantwortungslosigkeit agiert. Ich habe vor einigen Tagen an gleicher Stelle darauf hingewiesen, dass der Regierungskurs vermutlich in erster Linie einem elektoralen Kalkül folgt, in dem die konservative Partei eine gesteigerte Unpopularität in Katalonien – wo sie ohnehin keinen Blumentopf gewinnen kann – billigend hinnimmt, um im Gegenzug gegenüber dem nicht-katalanischen Spanien ihre Stellung als verlässlicher Wächter der spanischen Einheit zu stärken. Ein solches Kalkül mag Rajoys Handeln erklären – rechtfertigen tut es es aber nicht, weder gegenüber den Hunderten Verletzten am Tag des Referendums noch gegenüber dem Staat, dem er Kraft Amtes eigentlich verpflichtet ist und den er in eine außerordentlich prekäre Situation manövriert hat. Ein Ausweg würde voraussetzen, dass sowohl die katalanische als auch die Regierung in Madrid über ihre sehr großen, sehr dunklen Schatten springen, einvernehmlich die EU als Mediator einspannen und dann die Beziehungen zwischen Staat und Region in einem neuen Autonomiestatut neu definieren. Dass das mit dem gegenwärtigen Personal gelingen kann, scheint ausgeschlossen.
Entweder ein katalanischer Staat ohne EU-Mitgliedschaft und mit allenfalls teilweiser internationaler Anerkennung, dem sowohl die ausländischen als auch die einheimischen Wirtschaftsunternehmen davonlaufen und der sich im Inneren an Spannungen zwischen Anhängern und Gegnern der Unabhängigkeit und vielleicht auch zwischen „Bio-Katalanen“ und den vielen Zugezogenen abarbeiten muss, oder die autoritäre Rezentralisierung Spaniens unter Führung einer PP, die dabei immer mehr an die längst überwunden geglaubte Falange erinnert. Dann immerhin hätte die EU ein Rational, um sich einzumischen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Dietmar Schirmer
Redaktionelle Umsetzung: CvD