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Thorsten Philipp studierte Kunstgeschichte, Romanische Philologie und Politische Wissenschaften an den Universitäten München, Wien, Brescia und Aix-en-Provence. Im Anschluss an seine Promotion am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München war er als Politikberater mit Schwerpunkt Umwelt und Entwicklung in Brüssel tätig. An der Zeppelin Universität leitete Thorsten Philipp als Programmmanager die Studiengänge Digital Pioneering und Business & Leadership for Engineers. Er lehrt Entwicklungs- und Umweltpolitik, Nachhaltigkeitstheorien sowie Asyl- und Wanderungspolitik an mehreren Hochschulen, darunter an der Universität Freiburg. Seit 2018 ist Philipp wissenschaftlicher Referent im Präsidialstab der TU Berlin.
Für die fast dreihunderttausend Mitglieder der jüdischen Gemeinde Wiens und die Angehörigen zahlreicher weiterer Minderheiten veränderte sich im Übergang vom 11. auf den 12. März 1938 schlechthin alles. Mit der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich wurde eine ganze Bevölkerungsgruppe, die das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben der Stadt prägend mitgestaltet hatte, in wenigen Stunden rechtlos, schutzlos, vogelfrei. Das Pogrom begann, wie Manfred Flügge in seinem Zeitroman „Stadt ohne Seele“ nachzeichnet, ohne sichtbare Gegenwehr: Es verstetigte sich zur „Normalität“, ohne dass es eines offenen Aufrufs bedurft hätte.
Die Übergänge, Wandlungen, Brüche und Kontinuitäten des Jahres 1938, die oftmals unter dem Begriff „Anschluss“ zusammengefasst werden, standen im Fokus einer wissenschaftlichen Exkursion, zu der ZU-Studierende der Hochschulgruppe der Hanns-Seidel-Stiftung am zurückliegenden Wochenende an die Originalschauplätze Wiens eingeladen hatten. Wie kam es – so die zentrale Frage dieser Tagung, an der sich Stipendiatinnen und Stipendiaten verschiedener Hochschulgruppen beteiligten –, dass die Unabhängigkeit und die Fundamente einer ganzen Gesellschaft über Nacht scheinbar kompromiss- und widerstandslos aufgegeben wurden?
Ein besonders aussagekräftiger Ort in der Auseinandersetzung mit dieser Frage eröffnet sich am Wiener Heldenplatz, an dem sich Kaiserliche Hofburg und Bundeskanzleramt, Reiterdenkmäler und Volksgarten spannungsvoll gegenüberstehen. Das Äußere Burgtor, durch die Besucherinnen und Besucher heute scharenweise ihren Weg in die Hofburg nehmen, bildete seit kaiserlich-habsburgischen Tagen die semantische Grenze des politischen Systems und seiner Machtzentren: diesseits des Zauns der Heldenplatz und die Hofburg als Residenz der vorgeblich heiligen, durch göttliche Gnade legitimierten Herrschaft; jenseits des Zauns die Wiener Ringstraße als Raum einer regsamen Öffentlichkeit aus Untertanen und Beherrschten.
Hofbaumeister Peter Nobile hatte die Pläne für die dreigliedrige Toranlage geliefert, die 1824 nach fast sechsjähriger Bauzeit fertiggestellt wurde. Als Hitler am 12. März 1938 am Heldenplatz einfuhr, um von der Terrasse der Hofburg den „Eintritt“ Österreichs in das Deutsche Reich einer frenetisch jubelnden Masse zu diktieren, öffnete man ihm die mittlere Durchfahrt des Tores: eine historisch beispiellose Geste der Unterwerfung, war doch das Mitteltor bis hierhin allein dem Kaiser vorbehalten, dessen Amt und Funktion 1918 freilich erloschen waren.
Kaum bemerkt vom vielfältigen Treiben auf dem Heldenplatz birgt das Äußere Burgtor bis heute zwei dunkle Innenräume – vergoldete Lorbeerzweige, symmetrisch stilisiert, zieren die Eingänge. Bereits 1934 war der vom Heldenplatz aus rechts gelegene Flügel mit einem Sakralraum ausgestattet worden, in dessen Bildprogramm nationalistischer Helden- und Opferkult, Weihe und Mythos ineinander verflochten erscheinen. Seinen Kern bildet das monumentale Rotmarmor-Epitaph eines toten Infanteristen, das der österreichische Bildhauer Wilhelm Frass – seit 1933 illegales Mitglied der NSDAP – entworfen hatte. Hitlers Kranzniederlegung am 15. März 1938 eröffnete eine Reihe von nationalistischen Gedenkmomenten, die sich an diesem Ort bis in unsere Tage fortsetzen. Der Raum – an allen Werktagen öffentlich zugänglich – empfängt die Eintretenden huldigungsvoll durch ein Schriftband, von dem unklar bleibt, auf wen genau es sich bezieht, wenn es kommentarlos behauptet: „Im Gedenken an die Opfer im Kampfe für Österreichs Freiheit.“ Freiheit, aber wovon und für wen?
Ähnliche und doch andere Ratlosigkeit erfasst die Besucherinnen und Besucher im gegenüberliegenden, linken Flügel des Burgtores, den zu betreten der Öffentlichkeit üblicherweise untersagt ist. Unsere Gruppe indes war privilegiert: Ein Historiker der Universität Wien öffnete die Tür, hinter der sich die Spannungen österreichischer Erinnerungskultur in aller Schärfe konzentrieren. Erst 1965 wurde hier – selten beachtet, kaum bekannt und offenkundig wenig geliebt – eine Gedenkstätte für den österreichischen Widerstand eingerichtet. Einen schlichten Altar aus dunklem Marmor ziert – wortgleich zum Pendant im rechten Flügel – die Inschrift „Im Gedenken an die Opfer im Kampfe für Österreichs Freiheit“.
In der Dichotomie seiner beiden Flügel und ihrer Innenräume, in denen die Besucherinnen und Besucher sich selbst überlassen bleiben, erscheint das Äußere Burgtor weniger als Raum des Gedenkens an 1938 sondern eher als Abbild der Konflikte, Verlegenheiten und Leerstellen, die die Frage nach angemessener Erinnerungskultur hinterlassen hat. „2014 beginnt die Neugestaltung des Österreichischen Heldendenkmals“ verspricht eine provisorische und hilflos wirkende Schautafel, die schon einige Jahre hinter sich hat. Acht Jahrzehnte nach den Ereignissen, die den Terror in Wien buchstäblich über Nacht etablierten, wäre es höchste Zeit für eine umfassende Neudefinition des Äußeren Burgtores – und eine hellwache Ausleuchtung seiner dunkelnden Innenräume.
Titelbild:
| Simon Matzinger / Eigenes Werk (CC BY 4.0) | Link
Bilder im Text:
| Dr. Thorsten Philipp (alle Rechte vorbehalten)
| Dr. Thorsten Philipp (alle Rechte vorbehalten)
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Thorsten Philipp
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm