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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Mein Weg zur Arbeit führt durch ein mittelständisches Wohngebiet in Santiago de Chile, zu dem auch einige elegant aussehende Privatkliniken gehören. Zwischen zwei von ihnen, genau wo ich rechts abbiegen muss, stehen auf dem Gras, neben einem Kamin aus frühindustrieller Vergangenheit, ein paar Campingzelte. Sie schützen ganze Familien vor der Kälte des südlichen Winters. Wenn ich morgens dort vorbeikomme, waschen sich Alt und Jung unter einem Gartenschlauch zur Musik von Fernseh- oder Radiosendungen, die aus den Zelteingängen dröhnt. Am späten Nachmittag sehe ich die Frauen stricken, während die Männer auf einem fleckigen Teppich Karten spielen und die Kinder zwischen zwei „Toren“ kicken, die sie mit Steinen markiert haben.
Seit ein Bewohner dieser Straßenecke mich einmal höflich um Feuer für seine Zigarette bat, sprechen wir fast jeden Tag. Es sei wirklich gut, hier zu wohnen, sagt er, „zwischen den soliden Gebäuden“ werde es nachts „nie allzu kalt“ und manche der Kliniken seien sogar bereit, bei Notfällen „ohne Versicherung oder Check zu helfen“. Außerdem könne man sich in diesem Viertel auf die Polizei verlassen. Sorgen macht er sich nur um eine neue Baustelle, die den Platz für die Zelte zu verengen beginnt.
Seine Ausführungen erinnern an den Diskurs gutbürgerlicher Immobilieneinschätzung und lassen mich an den Mann auf der einen Hauptstraße von Palo Alto in Silicon Valley denken, der mit seinem langen grauen Bart wie ein gestrandeter Aristokrat aussieht. Ich kenne den Mann schon seit Jahren, ohne zu wissen, wie er heißt. Manchmal lade ich ihn zu einem Hamburger bei McDonald's ein, wo der Einkaufswagen mit seinem Bündel steht, und zu meiner Rolle gehörte die immer selbe Mini-Pointe, dass ich eigentlich lieber „Kentucky Fried Chicken“ esse, bis der namenlose Bekannte mich neulich mit einem „No, thanks“ und der Begründung ausstach, er sei inzwischen Veganer geworden.
Sicher, diese besondere Szene gehört zu einer Umwelt historisch beispiellosen Wohlstands, wo selbst die am meisten Unterprivilegierten ab und an wählerisch sein dürfen – aber grundsätzlich beschwören solche Situationen ein Bündel von Reaktionen voller Widersprüche herauf, die wir uns nicht gerne bewusstmachen. Zuerst sind da das Mitleid mit Menschen, deren Schlaf von wechselnden Wetterlagen abhängt, und der Impuls, ihnen gleich einen Dollarschein zu geben oder ihnen einen Hamburger zu spendieren. Und dann kommt der eher politische Gedanke auf, sie durch staatlich-soziale „Maßnahmen“ von ihrem Leben auf der Straße – und uns selbst von ihrem Anblick – zu erlösen.
Zur Spannung der Gefühle gehören ähnlich auseinanderstrebende Projektionen. Erstaunlich oft wird auf der einen Seite die Vermutung geäußert, dass die namenlosen Bekannten ein Leben ganz ohne Verpflichtungen bewusst gewählt hätten und als eigentliche Erfüllung erlebten. Oder sparen sie einfach die Ausgaben für jene Zigaretten und Hamburger, die sie von mir bekommen können? Auf der anderen Seite bewundere ich die Würde, die viele Menschen von der Straße davor bewahrt, trotz allen Narben eines prekären Lebens die Form ihrer Worte und Gesten je ganz zu vernachlässigen. Sie haben sich nicht aufgegeben und sprechen immer gerade noch auf Augenhöhe.
Die grundsätzliche Unsicherheit unserer Normalbürgereinstellung gegenüber Zeitgenossen, die auf dem Boden der Städte schlafen, unsere Unsicherheit zwischen franziskanischen Impulsen und sozialdemokratischen Lösungsrezepten schlägt sich auch in der Sprache nieder. Denn wir haben keinen genauen und doch wertneutralen Begriff für ihre Lebensformen und verurteilen dann – im Grunde aus Verlegenheit und kaum verdrängten Schuldgefühlen – jede beschreibende Rede über sie als moralisch illegitim.
Nur etwas weniger herablassend als das gängige, sehr norddeutsch klingende Wort „Penner“ kommt mir der österreichische Ausdruck „Sandler“ vor, der in den späten achtziger Jahren von einem Schlager der Pop-Gruppe „Erste Allgemeine Verunsicherung“ zum „Sandler-König“ gesteigert worden war. Allerdings wird auch das deutlicher aseptische englische Konzept von den „homeless people“ der Komplexität ihrer Lebensform nicht gerecht – und der zunächst neutral wirkende Begriff der „Verwahrlosung“ zeigt auf den zweiten Blick eine durchaus problematische Implikation. Verwahrlost, lesen wir in einem Psychologielexikon, sei „eine anhaltend und in allen Bereichen des Lebens von den Erwartungen ihrer Umwelt abweichende Person“.
Wollen wir also wirklich unsere Normalerwartungen und unsere eigenen Lebensformen zum Maß aller Dinge – und zur Norm für das Leben aller Menschen – machen? Immerhin gehören zum Alltag in vielen europäischen Ländern die Sinti und Roma, die ihre mobile Unabhängigkeit – oft leidenschaftlich – bejahen, obwohl sie immer wieder und auch ganz ohne Konflikt mit dem Gesetz unter den Begriffsschatten der Verwahrlosung fallen. Woher könnte man eine moralische Berechtigung ableiten, sie zur Bindung an einen Ort zu zwingen?
Die im Wohlfahrtsstaat dominierende Einstellung, an die wir uns längst gewöhnt haben, nämlich die Kombination zwischen einer harschen Unterdrückung von Lebensformen, die von den Erwartungen ihrer Umwelt abweichen, und gutgemeinten Erlösungsversprechen, ist in der Frühen Neuzeit entstanden. Ausgehend von Spanien nahmen ab dem sechzehnten Jahrhundert allenthalben komplizierte Verbote des Bettelns und des Vagabundierens überhand. Zugleich bildeten sich Institutionen massiver Umerziehung heraus, etwa die in der englischen Aufklärung entstehenden „working houses“. Beide Seiten dieser Entwicklung trugen dazu bei, Armut für all jene Menschen unsichtbar zu machen, die nicht von ihr betroffen waren.
Trotzdem hat sich jene grundlegende Unsicherheit gegenüber ihrer Präsenz bis in unsere Gegenwart erhalten. Innerhalb einzelner nationaler Rechtssysteme sind die Gesetze zur Regulation von Betteln, Verwahrlosung und anderen Formen exzentrischen Lebens durch beständige Revisionen gegangen. Und obwohl es einen breiten modernen Konsens gibt, wonach Betteln des Menschen nicht würdig ist und verhindert werden muss, schwanken die Rechtsvorschriften zwischen absoluten Verboten und ebenso grundlegender Freizügigkeit. Woher kommen solche Ambivalenzen? Warum verlassen wir uns nicht auf die in der Neuzeit verbindliche Formel? Was geht uns heute Verwahrlosung an?
Hinter dem machtvollen Programm von Einschränkung, Unsichtbarwerden und Aufhebung öffentlicher Armut ist die Intuition nie ganz verschwunden, dass sie als gewählte Lebensform Würde und Charisma entfalten kann. Niemand hat dies eindrucksvoller vorgelebt und formuliert als der heilige Franziskus von Assisi, der die Abwendung vom sinnlichen Leben seiner Jugend auf die ebenso schöne wie provokante Formel brachte, er heirate die Dame Armut. Seine Vorgänger waren Religionsstifter wie Jesus Christus und Gautama Buddha (die islamische Interpretation der Armutsdimension in Mohammeds Leben bleibt ambivalent), aber natürlich gehört auch die philosophisch-kynische Schule mit dem Leben des Diogenes als ihrer sprichwörtlichen Konkretisierung zur selben Genealogie.
Aus geschichtlicher Perspektive – und das heißt: außerhalb theologischer Sinngebungssysteme – bleiben solche Gestalten Teil je besonderen Welten der Vergangenheit, an deren Erneuerung uns unmöglich liegen kann. Bemerkenswert ist allerdings, dass wir innerhalb einer globalen Kultur, die sich so gerne für ihre Öffnung gegenüber vielfältigen (auch körperlich) exzentrischen Lebensformen feiert, alles Gefühl verloren haben für einen Willen zur Mobilität ohne Heimat, für Armut als existenzielle Option und auch für den Tod als physische Realität des Lebens. Fortschrittlich und politisch korrekt wirkt allein das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, diese Dimensionen aus unserer Erfahrung auszuschließen – und unsichtbar werden sie vor allem durch die Umformung in jene normative Lebensform, die unserem eigenen Alltag entspricht (Sinti und Roma sollten am besten zu Sparkassenbeamten oder Tankwarten umgeschult werden und die Zeltbewohner von Santiago zu Verkehrspolizisten oder Philosophielehrern).
Dagegen verfügte die mittelalterliche Kultur in der „Separatio Leprosorum“ über eine eigenartige soziale Form, in der gerade die Isolierung eines – in diesem Fall – für die Gemeinschaft gefährlichen Körpers mit seiner Präsenz im sozialen Leben zu vermitteln war. Sobald deutlich wurde, dass Lepra als ansteckende Krankheit eine Frau oder einen Mann überfallen hatte, wurden sie tatsächlich bei lebendigem Leib einem Beerdigungsritual unterworfen, in dem ein Priester sie – öffentlich – als „für die Welt gestorben und zu neuem Leben für Gott erweckt“ vorstellte.
Von diesem Moment an lebten sie mit anderen Leprakranken in sichtbarer Gegenwart an den Rändern der Städte, ohne zu Opfern kollektiver Aggression zu werden. An bestimmten Tagen des Kirchenjahres durften sie – durch ihre Kleidung und bestimmte Zeichen sichtbar gemacht – in die Städte zurückkehren, und alle gesunden Christen standen in der Pflicht, ihr Leben durch Almosen zu erhalten.
Zwar hat die moderne Medizin zahlreiche sozial bedrohliche Krankheiten eliminiert oder unter Kontrolle gebracht, doch fehlen uns – mehr denn je vielleicht – soziale Formen, um in der realen Präsenz dessen leben zu können, was uns heute als bedrohliches Anderssein beunruhigt: in der realen Präsenz von Armut, von Krankheiten ohne verfügbare Therapie – und in der realen Präsenz des Todes als physischen Ereignisses.
Die stärksten Technologien unserer Zeit und unser radikalster Wille zu kultureller Offenheit scheinen das Problem nur zu verschieben, ohne es zu lösen. Wir haben trotz allem objektiven Fortschritt Grund, die Namen der prinzipiell Namenlosen in unserer Welt wieder zu lernen und zu gebrauchen, um jene Distanz aufzuheben, welche die Dimension von Verwahrlosung über uns verhängt – so wie wir unsere Eltern nicht mehr alleine sterben lassen sollten.
Der Artikel ist am 29.06.2018 unter dem Titel „Wir fürchten uns vor dem Anderssein“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm