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Lisbeth Zimmermann, geboren in Oldenburg, studierte nach dem Abitur am Spessart-Gymnasium in Alzenau (Bayern) Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Ihr weiterer wissenschaftlicher Weg führte sie im Rahmen des Exzellenzclusters „Herausbildung normativer Ordnungen“ jeweils als Promotionsstipendiatin an die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Technische Universität Darmstadt sowie an das Leibniz-Institut HSFK. Für ihre Arbeit zu „Global Norms with a Local Face? The Interaction of Rule of Law Promotion and Norm Translation in Guatemala“ wurde sie an der TU Darmstadt promoviert und von der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung für ihre „herausragende Dissertation“ ausgezeichnet. Aufenthalte als Gastforscherin führten sie u.a. an die Elliott School of International Affairs an der George Washington University in Washington D.C. und an das Department of Political and Social Sciences des European University Institute in Florenz. Außerdem war Zimmermann Sprecherin der Nachwuchsgruppe der Sektion „Internationale Politik“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft und Stipendiatin des Programms „Fast Track: Exzellenz und Führungskompetenz für Wissenschaftlerinnen auf der Überholspur“ der Robert Bosch Stiftung. Seit 2015 ist Lisbeth Zimmermann Leiterin des von der DFG geförderten Projektes „Internationale Normen im Streit. Kontestation und Normrobustheit“ am Leibniz-Institut HSFK. Lisbeth Zimmermanns Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen aktuelle Herausforderungen einer multilateralen Weltordnung, Internationale Organisationen, Normen in den internationalen Beziehungen, Demokratie- und Rechtstaatlichkeitsförderung sowie Peacebuilding.
Die liberale Weltordnung steht unter Druck! So sehen wir in ganz unterschiedlichen Bereichen die Infragestellung bestehender internationaler Institutionen. Im Bereich der Sicherheit beunruhigt etwa die Aufkündigung des Iran-Atomdeals in diesem Frühjahr durch die USA und nicht zuletzt die Ankündigung, sich aus zentralen Abrüstungsverträgen mit Russland zurückzuziehen. Im Bereich der Wirtschaft scheint die Welthandelsorganisation unfähig, einen Handelskrieg zwischen den USA und China einzudämmen. Im Bereich des Klimas haben die USA 2017 ihren Rückzug aus dem Übereinkommen von Paris aus dem Jahr 2015 erklärt, und der gerade neu gewählte Präsident Brasiliens Jair Bolsonaro kündigte jüngst an, es Donald Trump schnellstmöglich nachtun zu wollen. Im Bereich der Menschenrechte hat es der Internationale Strafgerichtshof mit einer Welle der Kritik afrikanischer Staaten zu tun. Syrien wiederum gilt als Scheitern der sogenannten Internationalen Schutzverantwortung: Denn bis heute konnte sich der UN-Sicherheitsrat auf kein gemeinsames Vorgehen in Bezug auf Syrien einigen.
Beobachten wir also eine Endzeit der liberalen Weltordnung oder scheint eine Restauration möglich? Um diese Frage zu klären, muss zunächst verstanden werden, was die liberale Weltordnung überhaupt ist. Unter der liberalen Weltordnung verstehen wir ein Ensemble von Normen und Institutionen, welche die Interaktion von Staaten und von nicht-staatlichen Akteuren prägen. Herausgebildet hat sich diese spezifische Ordnung im Laufe des 19. Jahrhundert, und in besonderem Maße wurde sie unter der Führung der USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertieft. Ihre Grundpfeiler sind dabei Multilateralismus, Freihandel und Menschenrechte. Diese liberale Weltordnung wurde oft als Erfolgsrezept dargestellt für Frieden, Sicherheit und Wohlstand; mit ihr könnten Großmächte eingehegt und Vertrauen zwischen Staaten hergestellt werden; sie garantiere wirtschaftliche Entwicklung und normativen Fortschritt.
Empirisch schien der Trend nicht aufzuhalten: Wir beobachten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine stetige Verrechtlichung und Institutionalisierung im internationalen System – internationale Organisationen haben außerdem stärkere regulative Fähigkeiten sowie Durchsetzungsmechanismen. Wir beobachten außerdem eine Liberalisierung internationaler Organisationen, zum Beispiel durch die Verbesserung des Zugangs für nicht-staatliche Akteure wie NGOs oder Unternehmen oder durch die fortschreitende Übernahme von Menschenrechtsstandards in die Politikprozesse.
Dies klingt zunächst nach einer Erfolgsgeschichte. Wo kommt der oben beschriebene Druck also her? Dafür finden sich ganz unterschiedliche Erklärungen. Verwiesen wird immer wieder auf aufstrebende Mächte im internationalen System wie China, Indien, Russland oder Brasilien, die oft andere Vorstellungen zur Ausgestaltung multilateraler Institutionen haben. Sie haben beispielweise auch jeweils eigene Interpretationen einer Internationalen Schutzverantwortung, die voneinander, aber auch von der Interpretation der westlichen Unterstützungskoalition abweichen.
Auch der sogenannte „Backlash“ der Autokratien wird oft als Auslöser des aktuellen Drucks herangezogen. Nach dem Höhepunkt der Wellen der Demokratisierung in den 1990er-Jahren, scheint nun weltweit die Qualität demokratischer Institutionen wieder zurückzugehen. Viele Autokratien wehren sich darüber hinaus aktiver gegen westliche Demokratie- und Rechtstaatlichkeitsförderung und begrenzen den Zugang für transnationale NGOs.
Ein anderes Phänomen scheint den westlichen Medien am meisten Sorge zu bereiten. Breite Bevölkerungsgruppen in Kernstaaten der liberalen Weltordnung verstehen sich als ihre Verlierer und wünschen sich Entflechtung und eine Rückführung von Regelungskompetenzen an einen imaginiert starken Nationalstaat.
Bei diesen aktuellen Bestandaufnahmen vergessen wir gern, dass die liberale Weltordnung schon lange unter Druck steht. Wir diskutieren nicht erst seit heute über das „Versagen“ internationaler Organisationen – spezifisch Überbürokratisierung und negative Politikeffekte – sowie die Machtasymmetrien innerhalb dieser Organisationen. Die WTO ist ein gerne herangezogenes Beispiel für ein intransparentes und asymmetrisches Verhandlungssystem, in dem die USA und die europäischen Staaten versuchen, ihre Präferenzen zur Marktöffnung in bestimmten Bereichen im Globalen Süden durchzusetzen, ohne gleichwertige Gegenleistungen zu erbringen. Weltbank und Internationaler Währungsfonds als Finanzorganisationen der liberalen Weltordnung mussten nach den desaströsen Auswirkungen ihrer „Strukturanpassungspolitik“ im Globalen Süden in den 1980er- und 1990er-Jahren umsteuern. Und sogar der Bereich der Menschenrechte wird kritisch betrachtet. So steht der Vorwurf im Raum, dass westliche Vorstellungen, wie eine arbeitsfreie Kindheit, anderen Weltregionen „übergestülpt“ würden. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn viele Menschen in der liberalen Weltordnung ein asymmetrisches Herrschaftssystem sehen, in dem wenig Teilhabe gewährt wird und in dem der „liberale“ Aspekt oft nur Heuchelei ist.
Welche Effekte hat diese Kritik denn nun auf internationale Normen und Institutionen? Forscher zeichnen meist ein pessimistisches Bild: Die Internationale Schutzverantwortung sei eigentlich schon tot, das Folterverbot verfalle und das Chemiewaffenverbot sei seit dem Einsatz dieser Waffen in Syrien obsolet. Die wenigstens widmen sich der Frage, welche Auswirkungen dieser Druck empirisch wirklich hat!
Im Rahmen des DFG-Projekts „Internationale Normen im Streit“ haben wir diese Frage für eine Gruppe internationaler Normen und Institutionen im Bereich Sicherheit, Menschenrechte und Umwelt erforscht. Das Ergebnis ist überraschend: Normen und Institutionen sind erstaunlich robust und werden gar nicht so schnell geschwächt, wie oft beschrieben. Mit Robustheit meinen wir, dass wir einerseits eine breite Einhaltung und Implementierung von Normen durch Adressaten – also Staaten – sehen. Andererseits erwarten wir eine breite diskursive Akzeptanz sowie eine deutliche Verurteilung von Staaten, die eine Norm brechen.
Das internationale Folterverbot wurde beispielsweise in den 2000er-Jahren von den USA massiv kritisiert und der Versuch unternommen, diese Norm zu schwächen. Überraschenderweise verfing diese Kritik jedoch nicht: So nahmen die Folteraktivitäten anderer Staaten nicht signifikant zu. Die europäischen Staaten waren als Partner der USA zunächst sehr zurückhaltend in ihrer öffentlichen Verurteilung, was sich aber nach und nach ändern sollte. Als Folge nahmen die USA ihre Folterpolitik zurück. Und Trump hat es bis heute nicht gewagt, diese Politik – trotz entsprechender Wahlkampfreden – wieder einzuführen.
Der Schaden von Kritik wird oft überschätzt, das zeigten auch andere von uns untersuchte Fälle. Kritik kann in internationalen Institutionen auch kreativ aufgenommen werden und zu einem Wandel oder sogar zu einer Normstärkung führen. Gleichzeitig wird der Einfluss mächtiger Staaten überbewertet. Im Alleingang können Staaten internationale Normen und Institutionen nur schwer zerstören. Unsere Fälle zeigten jedoch durchaus auch partielle Normschwächungen, beispielsweise was den Internationalen Strafgerichtshof oder ein Verbot des kommerziellen Walfangs angeht. Diese Schwächung ließ sich vorrangig darauf zurückführen, dass die spezifische Institutionalisierung der Normen als unfair und ungerecht wahrgenommen wurde.
Wie lässt die Situation also einschätzen? Akut scheint die Endzeit nicht zu sein. Akteure, die sich überhaupt nicht an den drei Grundpfeilern der liberalen Weltordnung (also Multilateralismus, Freihandel, Menschenrechte) orientieren, lassen sich aktuell nicht finden, obwohl einige Akteure sicher Verschiebungen in den Säulen anstreben. Haben wir es eventuell sogar mit einer Restauration zu tun, also einer Vertiefung der liberalen Weltordnung – als Reaktion auf die Infragestellung? Auch dies lässt sich nicht beobachten. Stattdessen beobachten wir in verschiedenen Politikfeldern in unterschiedlicher Kombination drei Trends, die seit Entstehung der liberalen Weltordnung Staaten, internationale Organisationen und NGOs verwendet haben, um ihre Kritik umzusetzen:
Amitav Acharya, einer der Vordenker global-gedachter internationaler Beziehungen, argumentiert darum, die klassische liberale Weltordnung – mit einer Dominanz des Globalen Nordens – sei im Abstieg begriffen. Sie würde durch eine „multiplexe“ Welt abgelöst: „Eine multiplexe Welt ist wie ein Multiplex-Kino – sie gibt ihrem Publikum die Auswahl von verschiedenen Filmen, Schauspielern, Regisseuren und Handlungen, alles unter einem Dach.“
Zumindest aktuell scheint das gemeinsame Dach noch zu existieren. Was sich unter diesem Dach befindet, hat sich aber deutlich diversifiziert. Es gibt nun Alternativen zu Vorschlägen des Globalen Nordens, mehr Süd-Süd-Integration und mehr regionale Politikprozesse.
Was bedeutet das konkret für Deutschland und die deutsche Außenpolitik? Möglicherweise werden einige der „liberalen“ Errungenschaften der 1990er-Jahre, wie der Internationale Strafgerichtshof oder die Internationale Schutzverantwortung, verwässert. Dies hat allerdings noch kein Ende der Weltordnung zur Folge. Möglicherweise werden die „Krisenmomente“ in Bezug auf einzelne Abkommen zunehmen, sei es in den Bereichen Abrüstung oder Klima. Hier sind natürlich die diplomatischen Brückenbauer gefragt, zu denen sich auch Deutschland gerne zählt, um einzelne Abkommen und Teilbereiche zu schützen und am Leben zu erhalten. Deutsche Außenpolitik sollte dabei nicht vergessen: Die liberale Weltordnung war nie perfekt. Der aktuelle Druck kann darum auch eine Chance eröffnen, die wir nutzen sollten, um über eine gerechtere Weltordnung nachzudenken.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Lisbeth Zimmermann
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm