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Jan Bürkle ist Bachelorstudent im Studiengang „Communication, Culture and Mangement“ an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Bereits zum Wintersemester 2011 begann er ein Lehramtsstudium in den Fächern Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen, das er jedoch nach sechs Semester abbrach. Nach einer kurzen Phase der Neuordnung begann er im Frühjahr 2016 sein Studium an der ZU. Von Beginn an legte er dabei einen starken Fokus auf den kulturwissenschaftlichen Aspekt des Studiums. Dies schlägt sich auch in seiner Erfahrung in der Berufswelt wieder: So arbeitete er für eine Spielzeit am Landestheater Tübingen, darüber hinaus engagiert er sich in der gemeinnützigen Kulturplattform Blaue Blume e.V. in Friedrichshafen und als Redaktionsleiter beim studentischen Internetradio Welle20. Aktuell arbeitet er zudem als Hilfswissenschaftler am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftspsychologie sowie am Lehrstuhl für Allgemeine Medien- und Kommunikationswissenschaft. Im Fallsemester 2018 forschte er für ein halbes Jahr am Filminstitut der Örebro University in Schweden zum Thema der Stille im zeitgenössischen europäischen Kino.
Das Medium Film war noch nie wahrlich still. Bereits in seinen Anfängen, in der Zeit des Stummfilms, wurde das Medium stets auch mit Klängen, Geräuschen und live eingesprochenem Dialog unterstützt – auch wenn der Name irrtümlicherweise etwas anderes verspricht. Reine (cineastische) Stille gehört daher eigentlich nicht zum Film dazu, und dennoch lassen sich einige prominente Beispiele finden, in denen das Weglassen von Ton auf unterschiedlichste Weise zu großem Effekt genutzt werden konnte – so zum Beispiel in Tatis‘ „Playtime“ (1967), Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1969), Annauds „The Bear“ (1988) oder sogar in modernen Kassenschlagern wie etwa Disneys Animationsfilm „WALL-E“ (Stanton, 2008). Gerade im Hollywood der vergangenen Jahre scheint das Thema der Stille wieder en vogue zu sein: So gewann bereits vor wenigen Jahren der moderne Stummfilm „The Artist“ (Hazanavicius, 2011) gleich fünf der begehrten Oscars.
Ganz ohne Ton, Musik und Dialog kommen jedoch auch diese Filme nicht aus, und der Einsatz von Stille beschränkt sich in diesen Beispielen auf kurze Szenen oder ein paar wenige Einstellungen. Der 2007 erschienene Film „Dans la ville de Sylvia“ von José Luis Guerín dagegen ändert diese Haltung zur Stille als filmisches Mittel auf drastische Art und Weise. Gerade einmal etwas mehr als sechs Minuten des Films sind mit Dialog gefüllt – nichtdiegetische Musik findet sich überhaupt nicht in ihm. Der Rest des Films ist in sogenannte cineastische Stille gehüllt.
Dieser auf die Gedanken des Philosophen und Filmwissenschaftlers Bela Balázs aufbauende und von der Musikwissenschaftlerin Daniela Kulezic-Wilson geprägte Begriff beschreibt die paradoxe Eigenschaft der hörbaren Stille im Film. Denn absolute Stille findet sich nur in äußerst seltenen Fällen im Film – vielmehr könne man einen Film oder eine Szene dann als still bezeichnen, wenn diese/r frei von Dialogen und Filmmusik ist und das Publikum mit dem weiten Raum der Stille allein lässt. Balázs nennt hier als Beispiel das Läuten einer Kirchenglocke, das über weite Felder an das Ohr des Zuschauers dringt. Für Gueríns Film bedeutet das, dass er zwar nicht absolut still ist, aber eben genau so still ist, wie das Kino eben sein kann, ohne den Zuschauer der Dimension der auditiven Wahrnehmung zu berauben. „Dans la ville de Sylvia“ brach durch eine radikale Reduzierung des Filmsounds auf die Umgebungsgeräusche und der damit verbundenen Fokussierung auf ein bildliches Erzählen mit vielen Erwartungen, mit denen ein Zuschauer üblicherweise an einen Erzählfilm herantritt, und öffnete damit zugleich das Tor zu einer bis dato nicht gekannten filmischen Erzählform: die der stillen – nicht stummen – Filme.
Das wohl drastischste Beispiel dieser stillen Filme stellt das ukrainische Drama „Plemya“ (engl. „The Tribe“) aus dem Jahr 2015 dar. Der Film, der das Leben einer Handvoll Schüler in einem heruntergekommenen Internat für Hörgeschädigte in Kiew zeigt, kommt komplett ohne hörbare Dialoge aus und verzichtet zudem auf den Einsatz von diegetischer als auch nichtdiegetischer Musik. Zwar sprechen die Charaktere im Film miteinander, da sich diese Dialoge aber ausschließlich in ukrainischer Gebärdensprache abspielen und bewusst auf die Verwendung von Untertiteln verzichtet wurde, bleiben diese Dialoge ungehört und damit auch vom Großteil der Zuschauerschaft unverstanden. Nichtsdestotrotz bleibt die erzählte Handlung dem Zuschauer nicht verborgen. Die gezeigten Reaktionen, Gestiken und Mimik der Charaktere sowie der Schnitt und die Kamera des Films selbst ermöglichen ein Verständnis der Handlung und der Dramatik des Films. „Plemya“ kann daher als der Gipfel des „stillen Erzählfilms“ betrachtet werden und lieferte damit auch den Anstoß für eine intensive Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Nutzung von Stille im Erzählfilm.
Angestoßen durch diese beiden Filme begann die Recherche nach weiteren Filmen, die eine ähnliche Nutzung von cineastischer Stille aufweisen könnten. Dabei manifestierte sich sehr schnell eine Auffälligkeit, die letztlich zur Ausgangslage der Fragestellung der Forschungsarbeit werden sollte: Es ließen sich derartige Filme vor allem im europäischen Kino der vergangenen zwölf Jahre finden. Auch im Hinblick auf einen 2018 erschienen Artikel in der britischen Zeitung „The Guardian“ mit dem Titel „A new Era of Silent Film“ (Gilbey, 2018) stellte sich die Frage, ob diese Anhäufung an Filmen, die markante Nutzungen von cineastischer Stille aufweisen, innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums als Trend innerhalb der europäischen Filmproduktion gewertet werden könne. Ausgehend davon entwickelte sich die Fragestellung ob der Gegebenheit eines solchen Trends und der Art und Funktion der Nutzung von cineastischer Stille in diesen Filmen.
In der Recherche ließen sich zunächst einmal zehn Filme identifizieren, die auf Grund ihres Sounddesigns für die Arbeit spannend waren. Unter diesen zehn Filmen hoben sich nochmals vier Filme deutlich vom Rest ab, da diese sich durch ein (nahezu) vollständig von cineastischer Stille geprägtes Sounddesign auszeichneten. Es handelt sich dabei um die bereits genannten „Dans la ville de Sylvia“ und „Plemya“ sowie um den italienischen Film „Le Quattro Volte“ (Frammartino, 2010) und den tunesischen Film „The Last of Us“ (Slim, 2016). Die drei erstgenannten Filme kommen dabei ganz ohne Filmmusik und mit nur äußert minimalen Dialogen aus – so werden in Le Quattro Volte im Verlauf des Films beispielsweise nur zwei Worte gewechselt –, letztgenannter dagegen beinhaltet keinerlei hörbaren Dialog, dafür aber kurze Instanzen von Filmmusik, die sich aber eher sphärisch mit der diegetischen Geräuschkulisse vermischen.
Diese Filme standen demnach im Fokus der Analyse. So wurden zunächst 16 Szenen aus den Filmen als für eine Analyse brauchbar identifiziert und in einem zweiten Schritt bereits mit Blick auf die Dimensionen der Zeit, der visuellen und auditiven Information sowie auf besondere Merkmale im Sounddesign tabellarisch erfasst. Insgesamt sieben Szenen wurden daraufhin für die Arbeit en détail analysiert. Die Ergebnisse der Analyse wurden pro Szene in drei Abschnitten festgehalten: In einem ersten Schritt wurde der audiovisuelle Inhalt der Szene Einstellung für Einstellung dargelegt. Daraufhin wurden Schnittstellen zwischen Ton und Bild sowie auffällige Merkmale des Sounddesigns festgehalten. Im dritten Teil der Analyse wurde dann ein Vergleich zwischen der Darstellung von Ton und Bild in der Szene aufgestellt, um mögliche Abweichungen zwischen beiden Dimensionen aufzudecken.
Zunächst zeigten sich durch die Untersuchung der verwendeten Stilmittel im Sounddesign der Filme drei zentrale Nutzungsformen von cineastischer Stille, die auch nur durch diese Form des Sounddesigns erreicht werden können. So schafft es die cineastische Stille, etwas hörbar/sichtbar zu machen, das andernfalls nicht gehört/gesehen worden wäre, cineastische stille kann verhindern, dass der Zuschauer etwas hört, was er im Normalfall gehört hätte und cineastische Stille kann etwas hervorheben, was andernfalls nicht hervorgestochen wäre.
Diese Erkenntnisse scheinen zunächst einmal naheliegend und wenig überraschend. Dennoch zeigt gerade ein Vergleich zum Sounddesign populärer (nordamerikanischer) Filme die große Wirkung und den hohen Innovationsgrad dieser Verwendung von Stille. Geräusche, Klänge und Details der innerfilmischen Umgebung werden durch das Wegfallen der Filmmusik und der Dialoge hörbar und hauchen dadurch den Schauplätzen der Szenen Leben ein. Zudem eröffnet sich eine immense Vielfalt an neuen Möglichkeiten für Schnitt, Kamera und Drehbuch, da die Geräuschkulisse jeder Szene bereits große Teile der Informationsüberlieferung an den Zuschauer übernehmen kann.
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Analyse stellt die acoustic education nach Balázs dar, die sich ebenfalls in jedem der Filme finden ließ. Konkret geht es dabei um die Möglichkeit, durch filmische Mittel dem Zuschauer das bewusste Hinhören und Lauschen auf einzelne Details im Sounddesign beizubringen. In den untersuchten Filmen war ein beliebtes Mittel hierfür beispielsweise das Filmen durch Glasscheiben oder aus der Entfernung, sodass Geräusche gedämpft wurden und der Zuschauer sich stark konzentrieren musste, um die Geräusche des gezeigten wahrzunehmen.
Eine letzte Erkenntnis, die an dieser Stelle genannt werden soll, stellt die Rückbesinnung auf den Alltag dar, die in so gut wie allen untersuchten Filmen sowohl im Thema als auch im Sounddesign deutlich zu erkennen war. So handeln, mit Ausnahme von „The Last of Us“, alle untersuchten Filme vom täglichen Leben der Protagonisten und bilden dabei lebensnahe Handlungen ab. Diese thematische Fokussierung auf den Alltag spiegelt sich auch im Sounddesign wider. Die Regisseure schaffen es dabei allesamt, das Ohr der Zuschauer durch das Chaos der Alltagsgeräusche zu navigieren – ähnlich wie es gekonnte Kamerafrauen und -männer mit dem Auge des Zuschauers vermögen. Das Sounddesign greift dabei in die Welt des Films ein, verschafft ihr eine Form, und die Stimmen der Dinge selbst beginnen durch die Tonaufnahme zu sprechen. Die Welt des Films wird durch die ungefilterte Wiedergabe der Umgebungsgeräusche für uns alle greifbar und bekommt eine Nähe, die wir in vielen anderen Filmen so oft vermissen. Sie fühlen sich echt an.
Zu guter Letzt soll noch die Frage nach dem vermeintlichen Trend geklärt werden. Um es kurz zu machen: Die Behauptung Gilbeys, eine neue Ära des Stummfilms sei durch die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre losgetreten worden, kann mit gutem Gewissen abgewiesen werden. Zwar sind im Laufe der vergangenen Dekade eine Vielzahl von Filmen erschienen, die sich mit dem Thema der Stille beschäftigten, oder das Stilmittel der Stille prominent verwendeten – im Hinblick auf die allgemeine Lautstärke des zeitgenössischen Kinos (man denke hier zum Beispiel an die vielen Action- und Superhelden-Filme) und die geringe Anzahl dieser „stillen“ Filme weltweit lässt sich keine neue Ära erkennen.
Ein Trend hingegen ist meiner Einschätzung nach durch die vier Hauptfilme dieser Arbeit klar gegeben. In meiner Recherche konnte ich keine weitere Welle von Filmen ausfindig machen, in der in einem so kurzen Zeitraum und auf so engem Raum so viele stille Erzählfilme produziert wurden. Auch wenn nicht klar ist, inwieweit die einzelnen Filmemacher von den Werken der anderen inspiriert wurden – es scheint so, als sei die Zeit und der Ort für die Möglichkeit des stillen Erzählens im zeitgenössischen europäischen Kino erstmals gegeben.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Jan Bürkle
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm