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Hektisches 21. Jahrhundert

Ob kluge Männer gelassen sein müssen

Im Blick auf Urteilen als zentrale Dimension der Klugheit können wir jetzt folgern, dass Gelassenheit als die Fähigkeit, gelegentlich eine Entscheidung zwischen Ja und Nein auszusetzen, zur guten Urteilspraxis und mithin zur Klugheit gehört.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.

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Einen, der sich kaum aufregt, wenn sein exzentrisch aufgelegter Mentor ihn jahrelang auf das Habilitationsgutachten warten lässt; einen, der einer Kleinstadt-Universität unbeirrt von allen Rufen und Chancen die Treue hält, weil er sich dort auf das Lebensprojekt konzentrieren kann; so einen Kollegen und Freund nennen wir zurecht „klug“. Aber braucht er nicht auch „Gelassenheit“, um derart klug zu wirken – und zu sein? Oder sind die beiden Adjektive „klug“ und „gelassen“ am Ende synonym?


Klug sein, liest man im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“, schließt nicht die abgeklärte Haltung der „Weisheit“ ein und bleibt im Gegensatz zur „Einsicht“ auf Abstand vom Horizont der Theorie. Klug sein hat den Status einer Matrix, auf der sich ganz verschiedene Handlungen vollziehen können. Als Tugend im aristotelischen Sinn einer habituell gewordenen Verhaltensform soll Klugheit nur gelten dürfen, wenn sie auf das Gute bezogen bleibt und deshalb nicht zur List oder Cleverness degenerieren kann.


Für die mittelhochdeutsche Sprache Wolframs von Eschenbach, lesen wir weiter, bedeutete „kluoc“ unter anderem „behend, gewandt, beweglich“. Das sieht plausibel aus – und überrascht uns doch ein wenig, weil sich Klugheit im Alltag ja durch den Ernst ihrer Urteilsakte bewährt. Was sollte ein „behendes Urteil“ sein? Liegt die Qualität von Urteilen nicht in der Entschiedenheit, mit der sie das Eine affirmieren und das Andere ausschließen? Nein, dies sind keine rhetorischen Fragen – weil Urteilen tatsächlich „Beweglichkeit“ verlangt. Wir urteilen in Situationen der Kontingenz, das heißt wenn immer wir mit Phänomenen oder Problemen konfrontiert sind, die sich weder eindeutig identifizieren noch garantiert lösen lassen. Solche Situationen sind stets singulär und also neu, da uns für vertraute Situationen immer schon allgemeingültige Interpretationen und Reaktionen zur Verfügung stehen. Neuheit und Singularität hingegen fordern Beweglichkeit, Flexibilität und behende Urteilskraft heraus.

Wenn es mit der Gelassenheit im Alltag nicht klappt – dann wenigstens im Urlaub? Das ist jedenfalls der Wunsch der meisten Deutschen. Der Großteil von ihnen möchte sich im Urlaub vorrangig erholen – zu dieser Erkenntnis kommt eine aktuelle Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). In der Befragung wollte die GfK von den Befragten wissen, ob sie eher einen aktiven Urlaub mit viel Sightseeing und sportlicher Betätigung bevorzugen würden oder eine Reise, die in erster Linie der Entspannung dient. Das Ergebnis: Für 60 Prozent der Frauen und 54 Prozent der Männer steht bei einer Reise die Erholung im Vordergrund. Gut jeder dritte Mann (35 Prozent) möchte jedoch auch im Urlaub aktiv sein. Bei den Frauen sind es etwas weniger (30 Prozent). Doch es gibt auch Unentschlossene: Je 11 Prozent der Männer und Frauen können sich zwischen Erholungs- und Aktivurlaub nicht entscheiden. Zum Glück gibt es ja auch die Möglichkeit, beides miteinander zu kombinieren.
Wenn es mit der Gelassenheit im Alltag nicht klappt – dann wenigstens im Urlaub? Das ist jedenfalls der Wunsch der meisten Deutschen. Der Großteil von ihnen möchte sich im Urlaub vorrangig erholen – zu dieser Erkenntnis kommt eine aktuelle Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). In der Befragung wollte die GfK von den Befragten wissen, ob sie eher einen aktiven Urlaub mit viel Sightseeing und sportlicher Betätigung bevorzugen würden oder eine Reise, die in erster Linie der Entspannung dient. Das Ergebnis: Für 60 Prozent der Frauen und 54 Prozent der Männer steht bei einer Reise die Erholung im Vordergrund. Gut jeder dritte Mann (35 Prozent) möchte jedoch auch im Urlaub aktiv sein. Bei den Frauen sind es etwas weniger (30 Prozent). Doch es gibt auch Unentschlossene: Je 11 Prozent der Männer und Frauen können sich zwischen Erholungs- und Aktivurlaub nicht entscheiden. Zum Glück gibt es ja auch die Möglichkeit, beides miteinander zu kombinieren.

Von Beweglichkeit, Flexibilität und Behendigkeit führt eine semantische Brücke zur Gelassenheit. Wer Gelassenheit hat, wird sich nie wie ein sturer Prinzipienreiter benehmen. Deshalb finde ich es erstaunlich, dass ausgerechnet Martin Heidegger von diesem Begriff fasziniert genug war, um ihn für seine Beschreibung des Denkens als zentrale Komponente aufzufassen (vor allem anlässlich einer Rede, die er 1955 in seinem Heimatort Meßkirch hielt, und in einem „1944/45 niedergeschriebenen Feldweggespräch“ ). Über viele Seiten windet sich die Meßkircher Rede in Heideggers angestrengter Sprache durch Festredner-Banalitäten von der „Gedankenlosigkeit“ der Gegenwart und vom Verlust einer „Bodenständigkeit“. Dann stößt er auf die „unaufhaltsame Übermacht der Technik“ als Grund dieser Defizite, und das Denken nimmt etwas Fahrt auf anlässlich der immer noch banalen Frage nach Vor- und Nachteilen der Technik, die eine von Heidegger kaum zu erwartende Antwort findet:


„Es wäre töricht, blindlings gegen die technische Welt anzurennen. Es wäre kurzsichtig, die technische Welt als Teufelswerk verdammen zu wollen. Wir sind auf die technischen Gegenstände angewiesen; sie fordern uns sogar zu einer immerzu steigenden Verbesserung heraus. Unversehens sind wir jedoch so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, dass wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten.“ (24)


Und genau diese Ambivalenz lässt Heidegger stehen, um sie „Gelassenheit“ zu nennen: „Ich möchte die Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen: die Gelassenheit zu den Dingen.“


Im Blick auf Urteilen als zentrale Dimension der Klugheit können wir jetzt folgern, dass Gelassenheit als die Fähigkeit, gelegentlich eine Entscheidung zwischen Ja und Nein auszusetzen, zur guten Urteilspraxis und mithin zur Klugheit gehört. An dieser Stelle zeigt sich auch die Kontiguität zwischen „Gelassenheit“ und dem Begriff der „Heiterkeit“, den Heidegger-Übersetzungen in die meisten europäischen Sprachen an die Stelle von Gelassenheit treten lassen. Nicht zufällig ist „Heiterkeit“ in der Meteorologie zu einer Standard-Metonymie geworden. Denn so wie wir das Wetter als „wechselhaft“ erleben, erlaubt uns Gelassenheit, zwischen verschiedenen Positionen und Perspektiven auf bestimmte Gegenstände zu wechseln.

Sein „Feldweggespräch über das Denken“ unter dem Titel „Zur Erörterung der Gelassenheit“, einen philosophisch ambitionierten Text, in dem Heideggers sprachliche Idiosynkrasien möglicherweise ihren expressionistischen Höhepunkt erreichten, lässt er mit einem strukturell ähnlichen Aussetzen „der Unterscheidung von Aktivität und Passivität“ (35) anfangen. Voraussetzung für wesentliches Denken sei eine „Absage an das Wollen“ (33), aus der sich die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Aktivität und Passivität ergibt (es gehört zu den Konventionen des deutschen Bildungsbürgers, in diesem Zusammenhang beflissen an den „Median“ als grammatische Form der antiken griechischen Sprache zu erinnern). Wo aber das Wollen eingeklammert ist, entspricht das Verhältnis zwischen dem menschlichen Dasein und der Welt der Dinge nicht mehr der „oft genannten Subjekt-Objekt-Beziehung“ (57), was Heidegger Anlass gibt, einmal mehr die sich „in der Subjekt-Objekt-Beziehung vollziehende Forschung“ der Naturwissenschaften als „so etwas wie einen Angriff auf die Natur“ (71) zu geißeln.


Doch wie stellt er sich eine für das Denken produktivere Beziehung zur Natur und zu den Dingen vor? Bei seiner Antwort gebraucht Heidegger den rätselhaften Begriff der „Gegnet“ (eine von ihm erfundene Variante des Substantivs „Gegend“), in dem Dasein und Welt nicht wie bei der Subjekt-Objekt-Beziehung getrennt sein sollen, sondern in und als Gelassenheit miteinander verfugt:


„Die Gelassenheit kommt aus der Gegnet, weil sie darin besteht, dass der Mensch der Gegnet gelassen bleibt und zwar durch diese selbst. Er ist ihr in seinem Wesen gelassen, insofern er der Gegnet ursprünglich gehört. Er gehört ihr, insofern er der Gegnet anfänglich geeignet ist, und zwar durch die Gegnet selbst.“ (51 f.)


Ich will nicht versuchen oder beanspruchen, diesem „Schreiben in Zungen“ eine ebenso kohärente wie komplexe Bedeutung abzugewinnen. Die Textstelle wirkt jedenfalls inspirierend auf mich, wenn ich sie mit dem Gedanken, ja mit der Sehnsucht der Rückkehr zu einer Beziehung zwischen den Menschen und den Dingen assoziiere, wie sie vor der Emergenz aller menschlichen Kultur existiert haben mag.

Das Gegenmittel zur Gelassenheit ist im 21. Jahrhundert das Internet geworden. Digitalisierung macht viele Arbeitsprozesse einfacher – doch nicht immer zum Wohl der Arbeitnehmer. Das zeigen Daten des „DGB-Index Gute Arbeit“. Insgesamt sind 82 Prozent der knapp 10.000 Befragten am Arbeitsplatz von Digitalisierungsprozessen betroffen, 30 Prozent sogar sehr stark. Gut die Hälfte gibt an, dass ihr Arbeitspensum dabei gestiegen ist. Nur sieben Prozent haben durch die Digitalisierung eine geringere Arbeitsmenge. Außerdem müssen Beschäftigte immer mehr Aufgaben gleichzeitig erledigen: Der Anteil des Multitaskings ist bei 56 Prozent der Befragten gestiegen. Immerhin: 68 Prozent sagen, dass ihre Work-Life-Balance nicht unter den Veränderungen am Arbeitsplatz leidet, bei 21 Prozent hat sie sich sogar verbessert. Allerdings geben auch 11 Prozent der Befragten an, dass ihr Privatleben leide.
Das Gegenmittel zur Gelassenheit ist im 21. Jahrhundert das Internet geworden. Digitalisierung macht viele Arbeitsprozesse einfacher – doch nicht immer zum Wohl der Arbeitnehmer. Das zeigen Daten des „DGB-Index Gute Arbeit“. Insgesamt sind 82 Prozent der knapp 10.000 Befragten am Arbeitsplatz von Digitalisierungsprozessen betroffen, 30 Prozent sogar sehr stark. Gut die Hälfte gibt an, dass ihr Arbeitspensum dabei gestiegen ist. Nur sieben Prozent haben durch die Digitalisierung eine geringere Arbeitsmenge. Außerdem müssen Beschäftigte immer mehr Aufgaben gleichzeitig erledigen: Der Anteil des Multitaskings ist bei 56 Prozent der Befragten gestiegen. Immerhin: 68 Prozent sagen, dass ihre Work-Life-Balance nicht unter den Veränderungen am Arbeitsplatz leidet, bei 21 Prozent hat sie sich sogar verbessert. Allerdings geben auch 11 Prozent der Befragten an, dass ihr Privatleben leide.

Eine solche Rückkehr wäre wohl selbst für Heidegger unvorstellbar gewesen, aber gerade deshalb kann ihr Bild uns Orientierung auf der Suche nach authentischem Denken geben. Und hier, meine ich, konvergiert das „Feldweggespräch“ mit einer sich verstärkenden Tendenz im akademisch-professionellen Denken der vergangenen Jahrzehnte, die Welt der Dinge nicht mehr aus der Distanz eines Außen (oder Subjekts) zu analysieren und auf Begriffe zu bringen, sondern in „operative Ontologien“ zu überführen. In operative Ontologien, wo die Dinge der Natur, der Kultur und der Technik als geformte Substanz neben den Begriffen stehen bleiben können und wo das gelassene Denken zu einem Teil ihrer Operationen wird.

Hans Blumenberg, der kaum ein Heidegger war, hatte einmal auf dem Fragebogen einer angesehenen deutschen Tageszeitung „Gelassenheit“ als seine „liebste männliche Tugend“ genannt (und von „Anmut“ als „liebster weiblicher Tugend“ unterschieden). Das ist mir nachvollziehbar, obwohl ich keine guten Gründe für die beiden Meinungen entdecken kann. So wie wir uns gerne daran erinnern, wie einer, den wir für bemerkenswert klug halten, in den rechten Momenten genug Gelassenheit aufbrachte, um vom Beobachter der Welt zu einem Teil operativer Ontologien zu werden.

Titelbild: 

| Matteo Vistocco / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bild im Text: 

Robson Hatsukami Morgan / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

LinkedIn Sales Navigator / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm 

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Zeit, um zu entscheiden

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