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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Die altgriechische Sprache muss sich sehr merkwürdig angehört haben. Sie legte keine betonten oder unbetonten Silben fest, sondern lange und kurze – und dann auch noch die Tonhöhe, in der diese zu erklingen hatten. Jedes Gedicht hatte neben seiner Metrik auch seine Melodie, und selbst wenn man sich nur unterhielt, war dies schon eine Art rhythmisierter und melodischer Gesang. Für griechische Ohren hörten sich umgekehrt alle anderen Sprachen offenbar wie unzivilisiertes Blabla oder, genauer, wie „Barbar“ an; und so nannten Griechen die Sprecher anderer Sprachen eben die Barbaren.
Die Abschätzigkeit, die schon damals in diesem Wort lag, verrät eine Prämisse, die modernen Augen noch eigenwilliger erscheint: Wahre Kultur wurde offenbar damals genauso selbstverständlich an der Musikalität der Sprache festgemacht, wie sie heute an ihrem Reflexionspotenzial gemessen wird.
Als sich später auch in der griechischen Sprache eine Folge betonter und unbetonter Silben durchsetzte, ging sogar die Angst um, dass damit die Kultur und all ihre Wohltaten verloren seien. Platon und andere Philosophen fürchteten einen Verlust an seelischer und körperlicher Gesundheit, Kraft und Sitten; und dies auf ähnlich selbstverständliche Weise, wie heute eine Barbarisierung befürchtet wird, wenn bei Schülern das Wissen und die Lesefähigkeit abnehmen.
Gegenwärtig würde ein derart auf Musikalität aufbauendes Verständnis der Kultur eine immense Herausforderung darstellen – gerade für die Kulturwissenschaften, die sonst sehr viele Kulturverständnisse kennen. Das lassen jedenfalls die diversen „Turns“, also „Wenden“, vermuten. Diese rufen immer neue Maßgaben aus, nach denen das Kulturelle analysiert und beschrieben wird.
Den Anfang machte Richard Rorty, der sprachtheoretisch geprägte Kulturtheorien 1967 unter dem Namen „Linguistic Turn“ bündelte; seither wurde im Schnitt pro Jahr ein neuer Turn ausgerufen. Die wichtigsten dieser Turns brachten ein performatives, ein körperliches, ein mediales, ein visuell-bildliches, ein räumliches, ein praktisches, ein rituelles und ein emotionales Beschreibungsparadigma in Anschlag. Nur einen „Musical Turn“ gab es nie.
Das sagt viel über die Wissenschaftskultur der Kulturwissenschaften aus, denn ungefähr zweitausend Jahre lang hätte es eines solchen Turns gar nicht erst bedurft. Davon zeugt noch heute der Begriff von Kultur als etwas „Musischem“. Er geht auf die Musen zurück, die griechischen Göttinnen der Künste. Die Musen waren Töchter der Göttin Mnemosyne, also der Erinnerung. Diese Herkunft brachte einerseits eine Tradition von Wissen und Erzählungen mit sich, andererseits aber auch Fertigkeiten und emotionale Haltungen, wie eine Musikalität der Sprache sie vermittelt und musikalische Virtuosität sie erfordert.
Die Musen waren demnach nicht nur Göttinnen des Singens und Tanzens, sondern auch der im obigen Sinne „musikalischen“ Sprachformen und Redegattungen. Die Musik – wörtlich: Musentechnik – war von Anfang an sehr breit angelegt. Als Paradigma der Kultur spürte man Musikalisches überall auf, auch in den Wissenschaften. Sprach- und Schriftbeherrschung (später das Trivium der sieben freien Künste) fielen anfangs genauso den Musen zu wie das geometrische und mathematische Denken (später das Quadrivium), mit dessen Hilfe der mythische Pythagoras und der historische Aristoxenos Rhythmen und Harmonien berechenbar machten.
Selbst die Astronomie wurde nach musikalischem Paradigma gefasst, glaubte man doch, an der beweglichen Ordnung der Sterne und Planeten eine für Ohren nicht hörbare Musik ablesen zu können, von der das All durchklungen sei. Den menschlichen Körper und die menschliche Seele entlang dieser Harmonien zu ordnen, war zudem festes Grundprinzip der Medizin, die dem Gott Apollon gewidmet war – dem Anführer der Musen.
Der Glaube an diese kosmisch-menschliche Musikalität hatte eine lange Geschichte bis in die Neuzeit hinein – selbst Johannes Kepler glaubte noch daran –, und sie hat ein konzeptuelles Nachleben bis heute: Der Literaturwissenschafter Leo Spitzer hat nachgewiesen, dass sich das Wort Stimmung, das ursprünglich nur das Gestimmtsein von Konzertinstrumenten bezeichnete, vor dem Hintergrund der musikalischen Kosmologie psychologisch ausweitete: auf jenes körperlich-seelische Gestimmtsein der Menschen mit der sinnlich-emotiven Atmosphäre, das Martin Heidegger als Begriff in die Philosophie reimportierte und wiederum zur Erlebens-Sache machte.
Das heutige Fehlen eines „Musical Turn“ wirft damit die Frage auf, warum die Wissenschaften dieses einst selbstverständliche Kulturverständnis verbannt haben. Die Antwort könnte hierin liegen: Musikalität scheint inkompatibel zu sein mit zwei wesentlichen Prämissen, die alle Turns vereinen.
Die erste Prämisse ist diejenige, auf althergebrachte Konzepte des Geistes als Ort des tiefen Erlebens zu verzichten: Die Turns liefern Methoden, um wissenschaftliche Gegenstände zu bestimmen, die möglichst ohne eigene subjektive Involvierung analysierbar sein sollen. Die zweite Prämisse ist diejenige eines Verständnisses von Kultur als Konstruktion, Erstellung oder Hervorbringung einer für sich zu nehmenden (das heißt von keiner vorgängigen Welt bedingten) Realität. Beide Aspekte sind vor dem Hintergrund eines musikalischen Paradigmas problematisch.
Das Musikalische lässt sich nicht auf objektivierbare Tonfolgen reduzieren, denn sonst verliert sich das Erleben, und ohne dieses gibt es wohl eine empirisch mathematisierbare Akustik, aber keine Musik – also keine Dynamik, keine Spannung, kein Gefühl. Um all dies und damit den musikalischen Sinn überhaupt als Phänomen zu gewinnen, muss man ihn mit- oder zumindest nacherleben. Musikalischer Sinn lässt sich somit kaum auf ein vom Wissenschafter unabhängiges Was reduzieren. Er ereignet sich als Wie des körperlich-sinnlichen Erlebens, und es gibt ihn nicht als vom Forschersubjekt trennbares Objekt der Forschung.
Das führt zur zweiten Schwierigkeit, denn ohne ein Was konstruiert Musik auch keine eigenen Realitäten. Vielmehr hat sie an bereits gegebenen Realitäten teil, indem sie diese zeitlich und emotiv formt und orientiert. Egal, was man tut – mit einem Ohrwurm tut man es musikalisch; aber das heißt nicht, dass man auf einmal in einer anderen Realität leben oder sie anders deuten würde. Man verleiht ihr nur eine Form, die sich auf sich selbst schließt und sich damit gegen andere Stimmungen abgrenzt. Diese Abgrenzung schafft aber keine eigene Realität – nur ein anderes Erleben.
Dass ein an der Musik orientiertes Kulturverständnis damit weder mit objektivierender Gegenstandsbildung noch mit einem Fokus auf Konstruktion von Realität gänzlich zu verrechnen ist, würde einen „Musical Turn“ zum Sonderfall unter den anderen Turns machen. Denn beide Eigenschaften sind keine zufälligen oder beliebigen Aspekte der Kulturwissenschaften.
Die Konstruiertheit von Realitäten ist für diese eine wichtige Prämisse, und die Ausklammerung des subjektiven Erlebens aus der Gegenstandsbildung war gar bestimmend dafür, warum man sie eben Kulturwissenschaften und nicht mehr Geisteswissenschaften nennt. Letzteres Wort wurde von ihrem „Erfinder“ Wilhelm Dilthey nämlich gerade für solche Wissenschaften verwendet, die sich nicht in reiner Objektivierung ergehen können, sondern auch auf die erlebende Subjektivität der Forscherinnen und Forscher angewiesen waren.
Die ältere, auf die Musen begründete Kulturalität lässt hingegen das Potenzial erahnen, das ein „Musical Turn“ freisetzen könnte. Musik macht es einerseits erforderlich, kulturellen Sinn auch als erlebten Sinn zu fassen und zu beschreiben – und nicht allein als konstruierte Bedeutung. Andererseits aber ginge mit dieser Rückbesinnung auf das „Geisteswissenschaftliche“ paradoxerweise auch eine Öffnung auf die empirischen Wissenschaften einher. Denn es ist ja nicht so, dass Musik nicht auch objektiviert werden könnte – der Objektivierung entzieht sich lediglich der musikalische Sinn.
Das, was an der Musik objektiviert werden kann, weist indessen eine erstaunliche Affinität zu den empirisch-mathematischen Wissenschaften auf. Schon die antike (pythagoreische) Tradition erlaubte eine Mathematisierung des Rhythmus und der Harmonien; heute gesellen sich Quantifizierungen des Akustischen hinzu, aber auch empirische Untersuchungen der Effekte in Hirn- und Körperscans, Sequenzanalysen der Untersuchung ab- und eingestimmter Interaktionen und vieles Weitere mehr.
Eine neuerliche Dichotomie von Erlebensform und Mathematisierung könnte der Gegenwart besser zu Gesicht stehen, als es auf den ersten Blick erscheint. Unsere ist schließlich eine Zeit, in der Objektivierbarkeit und subjektives Erleben, Information und Sinn deutlicher auseinanderfallen denn je.
Einerseits lässt sich das objektivierbare Wissen immer besser algorithmisch prozessieren, und seine maschinelle Verarbeitung entkoppelt sich vom Bewusstsein, vom Erleben und damit auch vom Sinn. Andererseits ist diese Objektivierung damit umso dringender auf einen dezidiert geisteswissenschaftlichen Gegenpart angewiesen. Die innermusikalische Demarkationslinie zwischen Objektivierbarkeit und Erlebbarkeit ließe sich für diese Inkongruenz von potenziell unbewusster Objektivierung und bewusstem Sinn geradezu paradigmatisch verstehen und bietet ein wundervolles Gerüst zum Weiterdenken.
Daher rufe ich ihn hiermit aus, den „Musical Turn“, und wünsche ihm, dass er nicht allzu schnell den Weg der allermeisten Turns der vergangenen Jahre geht. Aber das ist eigentlich nicht zu befürchten: Die Musen sind schließlich Töchter des Gedächtnisses – nicht der Schnelllebigkeit.
Dieser Artikel ist am 24. Februar unter dem Titel „Es ist Zeit für den Musical Turn – von mehr Musikalität könnten die Kulturwissenschaften nur profitieren“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm