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Said D. Werner ist Mitglied des Beirates Digitale Wirtschaft des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie in Nordrhein-Westfalen. 2020 forschte er an der UC Berkeley in Kalifornien und beim Stifterverband für die deutsche Wissenschaften zu Fragen der Wissensökonomie, Personalentwicklung und digitalen Lehre. Er ist Student der Soziologie, Politik und Ökonomie an der Zeppelin Universität, die er von 2017 bis 2018 als achter studentischer Vizepräsident mitleitete.
Dass freies Wissen und freie Wissensressourcen im Trend liegen, verdankt man nicht bloß der Durchsetzung semantischer Suchmaschinen und der immer noch nicht als Weltkulturerbe ausgezeichneten Wikipedia. Die Notwendigkeit eines individuell passfähigen, flexiblen und anschlussfähigen Lernens in der digitalen Welt, wie es das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) formuliert, ist eine Ableitung zweiter Ordnung von Pionierarbeiten der Informationsökonomie. Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts zeigte sich die sogenannte Wissensindustrie allein in den USA für ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes verantwortlich. Heute hat sie das produzierende Gewerbe weltweit auf ein knappes Viertel verdrängt. Weil diversifizierte Dienstleistungsmärkte rasche Bewegungen und hoch individualisierte Produkte hervorbringen, verlieren lineare Bildungsbiografien und abgeschlossene Lernpfade an Relevanz. Wer im Wettbewerb einer von nicht-materiellen Ressourcen und kurzen Halbwertszeiten bestimmten Ökonomie bestehen möchte, braucht Mittel und Wege, lebenslange Lernpfade in Anspruch zu nehmen.
Nach 16 Jahren CDU-geführter Bildungspolitik im Bund weist das deutsche Bildungswesen gerade für Erwerbstätige aber noch immer flächendeckende Barrieren der Ausschließbarkeit und Rivalität auf. Das allgemeine Verfügungsrecht wird trotz steuerlich finanzierter Eigentumsrechte stark eingeschränkt. Der Erwerb von Kenntnissen und neuen Wissens durch Weiterbildungsangebote in öffentlicher Trägerschaft ist nicht nur nicht auf die berufsbegleitende Praxis ausgelegt, sondern in der Regel kostspielig. In der bildungsökonomischen Bilanz führt dies zu erheblichen Verzerrungen. Fünf Monate vor Abtritt des Kabinetts Merkel IV ist Anja Karliczeks Idee vor allem eine Reaktion auf die durch die Pandemie deutlich gewordenen Defizite der rohstoffarmen Bildungsrepublik Deutschland. Dennoch birgt sie Hoffnung auf die Einlösung eines alten Versprechens: Bildung als inklusiv öffentliches Gut.
Daran versuchte sich die Bundesregierung übrigens bereits 2019 mit einer Novelle des Qualifizierungschancengesetzes, das Kosten- und Entgeltzuschüsse für Weiterbildungen von regulär Erwerbstätigen, gering Qualifizierten und älteren Arbeitnehmern gewährt. Eine gemeinsame Studie zur Zukunft der Qualifizierung des Stifterverbandes und McKinsey aus dem vergangenen Jahr zeigte aber, dass nur 30 Prozent der 550 befragten Unternehmen diese öffentlichen Fördermittel in Anspruch nahmen. Gründe hierfür bestehen vor allem in der bürokratischen Codierung des Programms: Der Umfang der Qualifizierungsmaßnahmen muss mindestens 120 Stunden betragen und die Durchführung durch einen zur Weiterbildungsförderung zugelassenen Träger erfolgen.
Inwieweit diese Anforderungen dem akuten Bedarf an Qualifizierungen gerecht werden und es in Zukunft tun werden, muss fraglich bleiben. Indes kennt auch Anja Karliczek die jüngste Statistik jener 210.000 Schulabbrecher des Jahres 2020 (+106.000 im Vergleich zum Vorjahr), deren Karriereleiter, um es mit den Worten des Bundespräsidenten zu sagen, noch vor dem Heraufstürmen der Treppe umgekippt ist. Die Zeit drängt, den Weg für eine intelligentere Vernetzung zwischen grundständigen und lebensbegleitenden Lernwegen zu ebnen.
Eine gewichtige Rolle könnte dabei den öffentlichen Hochschulen zukommen, die seit über einem Jahr erhebliche Fortschritte in der Digitalisierung der eigenen Lehr- und Lernangebote erzielen. Wahrscheinlich ist, dass in kommenden Semestern ein beträchtliches Volumen der eigenen Angebote auch weiterhin digital zur Verfügung stehen wird. Die Forderung des Deutschen Hochschulverbandes, digitale Lehrdeputate zu etablieren, weist den Weg in die Zukunft.
Für die erwerbstätige Bevölkerung liegt darin ein bisher verborgenes Potential, das auf einer Nationalen Bildungsplattform zur Entfaltung käme. Viel vom in Bachelor und Masterstudiengängen vermittelten Wissen ist hoch kompatibel und hochattraktiv für fortlaufende Qualifizierungsanforderungen der Arbeitnehmer. Ob Kompetenzen der Digital Literacy, Datenanalytik, andere Hard oder Soft Skills: Anders als viele Unternehmen sind Hochschulen eher am Puls der Zeit. Während vor der Pandemie hohe Zugangsbarrieren der Hochschulen die Qualifizierungsinvestitionen von Unternehmen meist an privatwirtschaftliche Anbieter trieben, zeigen digitale Angebote nun gänzlich neue Strategien auf.
Auf einer Nationalen Bildungsplattform könnten Arbeitnehmer, selbstständig und zukünftig Erwerbstätige ihre Verfügungsrechte durchsetzen und Zugriff auf fortlaufende Angebote zur Steigerung der persönlichen Kompetenzen und Kenntnisse erhalten. Über frei verfügbare, akkreditierte und qualitativ hochwertig orchestrierte Inhalte wären zeitunabhängige und flexibilisierte Maßnahmen denkbar, die der individuellen Lebenslage gerecht werden. Unternehmen könnten so das Humankapital ihrer Belegschaft erhöhen und kostensparend durch subventionierte Maßnahmen bei öffentlichen Bildungsanbietern zu niedrigen Opportunitäten arbeiten. Informationsasymmetrien würden durch akademische Standards der Qualitätssicherung gesenkt. Mit den Hochschulen besäßen Arbeitgeber außerdem dauerhafte Vertragspartner, die mit der Erstellung mittel- wie langfristiger Anforderungsprofile Grenzkosten von Qualifizierungen senken dürften.
Mit einer Plattform wären die Hochschulen wiederum in der Lage, auch weitgehende Kooperationen für die grundständige Lehre zu etablieren und neue Praxispartner zu gewinnen, um ihre dritte Mission zu stärken. Abonnementmodelle à la Netflix eröffneten ihnen ferner innovative Finanzierungsmodelle, um Tailor-Made-Lösungen wie weiterbildende Studiengänge oder Präsenzformate über den kostenlosen Bestand hinaus zu entwickeln.
Sollte auch die künftige Bundesregierung diese Chancen ergreifen wollen, muss sie dem Qualifizierungschancengesetz ein weiteres Update verpassen. Der Mindestumfang von 120 Stunden sollte reduziert und in ein Kontomodell gemäß des European Credit Transfer System überführt werden. Auf diese Weise würde eine Nationale Bildungsplattform nicht nur transparente Zertifizierungsverfahren mit europäischer Anschlussfähigkeit bereitstellen, sondern auch die Effizienz staatlicher Subventionsinvestitionen erhöhen, indem Maßnahmen bei öffentlichen Bildungsträgern auf der Plattform gezielt realloziert werden. Bei 150 Millionen Euro Fixkosten zur Ausschreibung der digitalen Piloten, dementsprechend gen Null gehenden variablen Kosten und positiven Netzwerkeffekten scheinen Nichtrivalität und Nichtausschließbarkeit auf einmal recht günstig zu haben, um das relationale Vertragsversprechen der Bildung als öffentliches Gut ein Stück weit wahr zu machen.
Dass die Einlösung dieses Versprechen nun ausgerechnet auf Anja Karliczek zurückgehen könnte, ist unverhofft. Eigentlich hatte man sich bereits damit abgefunden, die Ministerin vor allem für eine über Jahre erfolgreich verschlafene BAföG-Reform und die dramatisch gescheiterten Corona-Nothilfen für Studierende am besten gar nicht in Erinnerung zu behalten. Sicher bleibt zwar, dass es für sie weder in einem Kabinett Laschet und erst recht nicht unter einer Kanzlerschaft von Anna-Lena Baerbock einen Platz auf der Ministerbank geben wird. Von ihrem Versuch, zumindest ein kleines politisches Erbe zu hinterlassen, könnte das Bildungssystem jedoch als Ganzes profitieren: Wo Menschen in jeder Lebenslage dazu befähigt sind, sich zu bilden, steigt nicht nur die gesellschaftliche Wohlfahrt, sondern auch das Vertrauen in die Demokratie. Für eine Republik nach der Pandemie und vor der Inflation sind das keine schlechten Nachrichten.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Said D. Werner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm