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Das Leben ist voller Risiken, insbesondere dann, wenn es Spaß machen soll. Dies bringt der alte Sponti-Spruch „No risk, no fun“ zum Ausdruck und wird praktisch, wenn man sich bei einer Skiabfahrt auf einer schönen Piste das Bein bricht. Die Gesellschaft nimmt solche Risiken in Kauf und niemand würde auf die Idee kommen, wegen des Risikos eines Unfalls, unter Hinweis auf die Belastung der Krankenhäuser, das Skifahren zu verbieten. Die Freiheit, Ski zu fahren, korreliert mit dem Risiko, einen Unfall zu erleiden. Das Verhältnis von Freiheit und Risiko ist allerdings durch die Corona-Pandemie nunmehr zu einer drängenden Frage geworden. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurden im Hinblick auf das Risiko der ansteckenden Krankheit COVID-19 so viele, auch elementare Grundrechtseinschränkungen gerechtfertigt und es stellt sich die Frage, wie weit eigentlich Risiken als Rechtfertigung zur Freiheitseinschränkung herangezogen werden können.
Hierbei ist zunächst festzustellen, dass die Freiheit des Menschen, so wie sie durch die Grundrechte des Grundgesetzes garantiert wird, prinzipiell unbeschränkt ist. Daraus folgt, dass jede Freiheitsbeschränkung einer Rechtfertigung bedarf. Die Grundrechte Dritter können dabei ohne Weiteres als Rechtfertigung für eine Freiheitsbeschränkung gelten. Die Schutzpflicht des Staates besteht darin, die Rechte Dritter – so zum Beispiel Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum – zu schützen und damit die Freiheit eines jeden zu ermöglichen. Umgekehrt darf der Staat niemanden an seiner Selbstgefährdung hindern. Dementsprechend ist der eigenverantwortlich gewollte Selbstmord Ausdruck der persönlichen Freiheit und kann nicht unter Strafe gestellt werden. Es gibt also regelmäßig eine Schutzpflicht vor Eingriffen von Dritten. Problematisch wird der Schutzpflichtgedanke aber dann, wenn es um die Abwehr von allgemeinen Gefahren, wie Krankheiten, oder Gefahren der technischen Zivilisation geht.
Dabei besteht Einigkeit darüber, dass grundsätzlich ein grundrechtlicher Anspruch des Staates auch vor solchen Risiken besteht. Es gilt der Grundsatz, dass je größer und wahrscheinlicher das Risiko ist, desto stärker ist der Staat verpflichtet einzugreifen. Insbesondere die Grundrechte von Leben und Gesundheit, aber auch das Eigentum verpflichten den Staat zur Risikovorsorge. Dies hat das Bundesverfassungsgericht für schwere oder nachweisbare Gefahren, wie die der Atomkraft, entschieden.
Problematisch wird dies dann, wenn unklare neue Risiken oder Risiken, für die keine klare Kausalkette im Hinblick auf Verursacher und Wirkung nachgewiesen werden kann, für eine Freiheitsbeschränkung herangezogen werden sollen. In solchen Fällen fehlt es an naturwissenschaftlich nachweisbaren Gefahren und es besteht nur eine Gefahrvermutung. Dann ist eine Freiheitsbeschränkung nicht mehr gerechtfertigt. In diesen Fällen bleibt eine Beobachtungspflicht des Staates.
Damit bleibt aber noch die Frage, welches Maß Grundrechtseinschränkungen im Zusammenhang mit nachweisbaren Risiken haben dürfen. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Hinblick auf die mit der Atomkraft verbundenen elementarsten Risiken darauf hingewiesen, dass eine absolute Sicherheit vor jedem Risiko nicht zu gewährleisten ist. Unsicherheiten, die selbst bei der Anwendung des neuesten Standes der Technik verbleiben, haben ihre Ursachen in den Grenzen des Erkenntnisvermögens und sind daher als sozialadäquates Lebensrisiko von allen Bürgern zu tragen. Insbesondere ist der Staat nicht verpflichtet, selbst bei schwersten Risiken für Leben und Gesundheit die Verwirklichung eines solchen Risikos in jedem Falle auszuschließen.
Überträgt man diese grundlegenden Aussagen der Rechtsprechung auf das Risiko durch die Corona-Pandemie, so ist zunächst festzustellen, dass der Staat nicht verpflichtet ist, jeden Corona-Toten zu verhindern. Er muss eine Risikovorsorge nach dem Stand der Technik sicherstellen. Diese Risikovorsorge ist mit der Bereitstellung der Impfung nun geschehen. Der Staat bietet ein verhältnismäßiges und wirksames Mittel zum Schutz gegen die Krankheit an. Für weitergehende Beschränkungen der Freiheit zum Schutz vor Ansteckung besteht dann allerdings keine Rechtfertigung mehr. Denn ein absoluter Schutz ist in Abwägung zu der persönlichen Freiheit unverhältnismäßig. Das Risiko, dass man sich als Nichtgeimpfter mit COVID-19 ansteckt, daran schwer erkrankt und gegebenenfalls auch verstirbt, ist ein Risiko, dass derjenige, der sich nicht impfen lässt, im Rahmen seiner persönlichen Freiheit, sich selbst zu schädigen, bewusst eingeht. Es ist sein grundrechtliches Recht. Er kann aus diesem grundrechtlichen Recht aber nicht ableiten, dass der Staat und sein Gesundheitswesen ihn in jedem Fall optimal versorgen. Auch dass er gegebenenfalls kein Intensivbett bekommt, weil ein Arzt einem anderen Patienten den Vorzug gewährt, ist sein persönliches Risiko.
Dass sich gegebenenfalls auch Geimpfte anstecken können, dass möglicherweise neue Varianten auftreten oder das wissenschaftlich oder medizinisch bisher weitgehend ungeklärte sogenannte Long Covid Syndrom sind Restrisiken oder Gefahrvermutungen, die als allgemeines Lebensrisiko nur noch zu einer Gefahrbeobachtung verpflichten und eine Freiheitsbeschränkung für alle nicht mehr rechtfertigen können. Dies gilt auch dann, wenn Personen nicht geimpft sind. Wer sich nicht impfen lässt, ist wie ein Skifahrer, der in Überschätzung seiner Fähigkeit eine schwarze Piste herunterfährt und sich die Knochen bricht. Beides sind persönliche Risiken und wenn sie sich verwirklichen, wird die Gemeinschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Beste tun, die Gesundheit des Betroffenen wiederherzustellen. Mehr ist nicht zu erwarten. Denn zur Freiheit gehört es auch, sich selbst zu gefährden oder kurz ausgedrückt: No risk, no fun.
Titelbild:
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Bild im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Georg Jochum
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm