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Erfahrungen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sind in der Welt elektronischer Kommunikation selten geworden. Einige Male pro Monat allerdings weckt das Wort „Tatort“ bei meiner Lektüre deutschsprachiger Medien genau dieses Gefühl: Zeitgenossen leben nach Verhaltensmustern, die wir als längst vergangen ansehen. Denn der „Tatort“ ruft eine Form des Fernsehens in Erinnerung, deren Prämissen jedenfalls für uns Kalifornier nicht mehr existieren – und beschwört die Jahrzehnte der uneingeschränkten Dominanz des Fernsehens über den Alltag herauf. Fremd wirkt vor allem die damit verbundene Erwartung, dass Millionen Zuschauer aus drei mitteleuropäischen Nationen an einem bestimmten Wochentag und zu einem bestimmten Zeitpunkt denselben Krimi verfolgen und sich ab dem nächsten Morgen ausführlich darüber unterhalten werden.
Ob die zyklische Wiederkehr von bestimmten Städten als Schauplatz der Handlung immer noch den „Tatort“-Sondereffekt hervorbringt und eine kulturelle Einheit in vielfältiger Differenzierung erlebbar macht, lässt sich nur schwer abschätzen. Jedenfalls können der „Tatort“-Begriff und seine Implikationen ein sonst kaum Gestalt annehmendes Bewusstsein vom Ende einer Lebensform auslösen, der bis vor kurzem – trotz allen Intellektuelleneinwänden – ja gerade die Zukunft zu gehören schien.
Dabei zeigen die meisten unserer Wohnungen, wie konsequent wir selbst an diesem Wandel mitgewirkt haben, ohne ihn zu bemerken. Verschwunden ist die typische Wohnzimmerecke, wo sich Familien allabendlich um den Fernseher als Möbelstück und die aufgeschlagene Programmzeitschrift versammelten, um aus enger Privatheit die sprichwörtlich „weite Welt“ zu erleben.
Inzwischen haben die über Vierzigjährigen das Möbel mit einem Bildschirm in früher ungeahnter Ausdehnung ersetzt, auf dem sie gelegentlich Live-Übertragungen von Sportanlässen verfolgen oder aufgezeichnete Episoden ihrer Lieblingsserien abrufen. Mit der Übernahme solcher Angebote durch das polyfunktional-bewegliche Smartphone hat die Generation der Digital Natives die Aushöhlung und Aufhebung des Fernsehraums zum Abschluss gebracht.
Als ich 1989 mit meiner Familie an die amerikanische Westküste kam, vermissten wir zwar den Halt einer zentralen Nachrichtensendung im Stil von „Heute“ oder der „Tagesschau“, die sich in einem Land mit drei Zeitzonen nicht realisieren lässt. Doch nach wenigen Tagen begannen die Kinder, jeden Morgen mit den Gestalten der „Sesamstraße“ weitere Schritte in die neue Kultur zu machen (ihre Zeichnungen von „Oscar the Grouch“ oder dem „Cookie Monster“ haben wir gerahmt aufgehoben). Und um vier Uhr nachmittags war dann meine Frau zu Gast bei Oprah Winfrey und ihren typischen oder exzentrischen Gesprächspartnern aus allen nationalen Schichten und Gegenden. Wann hat das Fernsehen aufgehört, dem Familienleben so seine Matrix zu geben?
Um darüber nachzudenken, ob wir das bisher übersehene Ende seiner Epoche eher als Erlösung feiern oder als Verlust bedauern sollen, bedarf es einer prägnanteren Auffassung von der Identität des Fernsehens, als sie unter dem Eindruck einer permanent kulturkritischen Klage der Gebildeten zustande kommen konnte. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts löste die Erfindung des Telefons und des Radios eine kollektive Sehnsucht nach entsprechenden Apparaten der visuellen Distanzübertragung aus, für die man von Beginn an das Kompositum „Fern-Sehen“ verwendete.
Als dann Mitte der zwanziger Jahre einschlägige Experimente in Großbritannien gelangen, stellte sich heraus, dass praxistaugliche Vorstellungen für ihren Gebrauch ganz und gar fehlten. Dieser eigentümliche Aufschub sorgte für vorübergehende Erleichterung bei Beobachtern, die pessimistische Visionen vom zukünftigen Einfluss des Fernsehens auf das soziale Leben hegten.
Seine Faszination und die Intensität der mit ihm verbundenen Erwartungen hielten indessen an. Am 22. März 1935 zelebrierte die nationalsozialistische Regierung Deutschlands die Einführung des „Ersten regelmäßigen Programmdienstes“ als einen Triumph der eigenen Fortschrittlichkeit. Doch weiterhin fehlten überzeugende Ideen für die inhaltliche Auffüllung dieses Rahmens. Nicht einmal die technisch anspruchsvolle Übertragung der Leichtathletikwettbewerbe bei den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin brachte den Verkauf von weit unter Produktionspreis angebotenen Familienfernsehgeräten in Gang.
Erst gegen 1950 entschieden sich einige amerikanische Sender für Programminhalte, die das Fernsehen plötzlich zum weltweit populärsten Medium machten. Im Vordergrund standen als Serien konzipierte Unterhaltungsabende mit Wettbewerbsritualen (zunächst vor allem mit Quizfragespielen) und Episoden aus dem Alltag von fiktiven Durchschnittsfamilien (als emblematisch gilt im historischen Rückblick die Reihe „Father Knows Best“, die auch in Deutschland unter dem Titel „Vater ist der Beste“ Beliebtheitsrekorde brach). Im Rahmen der auf die weite Welt geöffneten Privatheit fand jetzt die paradoxe Ersetzung des vom Fernsehabend zum Schweigen gebrachten wirklichen Familienlebens durch das Leben erfundener Familien statt – und die Ersetzung ihrer eigenen Spiele durch Spiele auf dem kleinen Bildschirm.
Die langfristige Wirkung dieses spiegelbildlichen Austauschs zwischen wirklichem Leben und Bildschirmleben hing von zwei Voraussetzungen ab. Erstens mussten sich Sendezeit und Struktur der Programme an die Formen der Nachmittags- und Abendfreizeit in den Familien anpassen. Und außerdem hatte an die Stelle von Vertrautheit innerhalb der Familie eine Vertrautheit mit den in den jeweiligen Serien wiederkehrenden Schauspielern und ihren Rollen zu treten.
Fernsehprotagonisten wurden millionenfach zu Familienmitgliedern. An Abenden mit den Quizmastern Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff stellte ich als Grundschüler voller Vorfreude Stühle für die Familie (einschließlich Großeltern) auf, zuerst wie im Kino und später in einem Halbkreis. Auch an den Werbespruch „Ist der Fernsehabend da, Hausschuhmarke Romika“ erinnere ich mich, mit dem die Eroberung entspannter Familienprivatheit durch das Fernsehen ihre gereimte Bestätigung erhielt. Dass daneben die als Unendlich-Serien inszenierten Nachrichtenprogramme und vor allem Live-Übertragungen emblematischer Ereignisse eine wesentliche Rolle beim zunächst unaufhaltsam scheinenden Aufstieg des Mediums spielten, belegen die Krönung Elizabeth II. 1953 und die Fußballweltmeisterschaft 1954. Sie waren Schwellenereignisse für den Verkauf von Fernsehgeräten.
Doch am Anfang und im Zentrum der Fernsehepoche war die Lebensform der gemeinsam schweigend auf die eigene Welt als Bildschirmwelt konzentrierten Familie gestanden. Zu ihrer schleichenden Auflösung hat eine Vielfalt von Effekten der Entsynchronisierung beigetragen (welche Smartphone-Besitzerin würde bis 20.15 Uhr auf eine Serienepisode warten, an der ihr gelegen ist?). Entscheidend aber war wohl jene Software, welche die Aufzeichnung beliebiger Programminhalte ermöglicht und so die Zeit der Programmstruktur definitiv vom Tageslauf der Zuschauer entkoppelt hat. Dass der „Tatort“ immer noch als kollektives Sonntagabendereignis wahrgenommen wird, muss man wohl als Phänomen eines nostalgischen Anachronismus abbuchen.
Haben wir viel zu verlieren in diesem Prozess? Die Netflix- und andere Streaming-Angebote könnten Kinos für immer aus unserem Leben verdrängen – oder auch den Kinobesuch, gerade weil er seltener wird, zu neuem Status erheben. Aber sollte man nicht das Ende der Fernsehfamilie, die so lange ein Lieblingsgegenstand bildungsbürgerlichen Nörgelns war, als eine Erlösung begrüßen? Als Erlösung wofür, wäre dann zu fragen. Denn in die leer gewordenen Stunden kehrt ja keinesfalls jene unmittelbar-lebhafte Geselligkeit zurück, die das Fernsehen angeblich liquidiert hatte – und die wohl ohnehin nie mehr als ein romantischer Wunschtraum gewesen ist. Als Symbolgestalt der Mediengegenwart und Medienzukunft sitzt der Binge-Watcher (oder Koma-Glotzer) mit seinem Smartphone allein im ehemaligen Wohnzimmer.
Muss uns das deprimieren? Oder ist diese Figur mit ihrer entschlossenen Einsamkeit, ihrer individuellen Verfügung über alle Programme und ihrer Unersättlichkeit nicht eine Reinkarnation des auch als einsam und unersättlich kanonisierten Leserindividuums aus der bildungsbürgerlichen Epoche? Darin läge die letzte Paradoxie der Fernsehepoche – vielleicht schon jenseits ihres Endes.
Dieser Artikel ist am 22. Januar unter dem Titel „Das Fernsehen ist auch nicht mehr, was es einmal war. Es verabschiedet sich aus unseren Wohnzimmern“ in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm