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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Kein Ende erreichen die Kommentare und Reaktionen der deutschen Medien zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche während dieser ersten Wochen eines gewiss nicht nachrichtenarmen Jahres. Dabei gibt es bemerkenswert Neues eigentlich kaum zu besprechen. Offenbar kommen mit dem langen Atem der Berichterstattung ebenso heftige wie schwer greifbare Irritationen der sich selbst für kohärent vernünftig und alternativlos säkular haltenden Öffentlichkeit zum Ausdruck.
Doch auch höchste Vertreter der Kirche stimmen in die allgemeine „Insolvenzrhetorik“ ein, wenn sie – wie jüngst die Erzbischöfe von München und Mainz – von einem „toten Punkt“ oder einer „heillosen Überforderung“ ihrer Institution reden. Die Urteile fielen gewiss weniger vernichtend – und als Selbstgeißelung: weniger verzweifelt – aus, wenn man die jüngsten Maßnahmen der katholischen Kirche vor allem, aber nicht allein in Deutschland mit den sonst üblichen säkularen Maßstäben analysierte. Sie führten zu einem immer noch strengen, aber weniger aufgeregten Bild.
Nach Jahrhunderten aktiver Verdunklung und halbherzig „gut gemeinter“ Lösungsversuche erkennt ein „Unternehmen“ – wie die Kirche derzeit gerne, wenn auch in der Sache eher unangemessen genannt wird –, dass es sich einen schonungslos offenen Blick auf den Habitus kriminellen Sexualverhaltens zumuten muss, welcher aufgrund der Enthaltsamkeitsverschreibung des „Zölibats“ als typisch für seine Vertreter gilt. Die Erzdiözese München hat deshalb bei der angesehenen Kanzlei Westphal/Spilker/Wastl ein Gutachten in Auftrag gegeben und dessen – die schlimmsten Erwartungen bestätigenden – Befunde ohne Vorbehalt zugänglich gemacht. Auf diesen endlich vollzogenen richtigen Schritt haben nun Entschlüsse zur Unterstützung und Entschädigung der noch lebenden Opfer zu folgen (wobei die Hilflosigkeit solcher Begriffe nur belegt, wie unaufhebbar die Schuld ist).
Dass nach den Detailergebnissen des Gutachtens ausgerechnet der emeritierte Papst Benedikt XVI. und ehemalige Kardinalerzbischof Joseph Ratzinger die Rückkehr eines wegen pädophiler Vergehen bekannten Priesters in die pastorale Praxis aufzuhalten versäumt hat, musste die schärfsten Kritiker der Kirche in ihrer Einschätzung bestätigen und Ratzingers Anhänger zutiefst enttäuschen. Dass Ratzinger glaubte, sich der potenziellen Anklage von Mittäterschaft mit einer leicht aufzudeckenden Lüge („er habe an der entscheidenden Verwaltungssitzung nicht teilgenommen“) und später – umrahmt von „Bedauern“ – mit der konventionellsten aller Ausreden („Fehler bei der Übermittlung einer Antwort“) entziehen zu können, mag sein persönliches Ansehen für immer zerstört haben. Doch nach säkularen Kriterien wären ähnliche Vergehen seitens eines ehemaligen Unternehmensleiters – einschließlich des peinlichen Unwillens, Verantwortung zu tragen – nicht mehr als eine einmalige Erwähnung wert.
Warum aber fällt es der Öffentlichkeit so schwer, sich von jener Konzentration auf den Katholizismus zu lösen? Darin mag ein Widerspruch gegenüber den für sie verbindlichen säkularen Werten zutage treten und mithin die Notwendigkeit, jene Fragen explizit zu machen, um die es in einem fortgesetzten Gespräch gehen sollte. Die professionellen Vertreter der Öffentlichkeit – aber auch eine Mehrzahl „engagierter“ Katholiken – stoßen sich wohl am nicht-säkularen Selbstverständnis der Kirche.
Zu diskutieren wären also – mit den Vertretern der Institution – erstens Möglichkeiten wie denkbare Ziele einer Reform und zweitens – gesamtgesellschaftlich gesehen – die Grenzen von Toleranz gegenüber einer nicht-säkularen Präsenz innerhalb der säkularen Gegenwart. Individuell hat eine wachsende Zahl ehemaliger Katholiken beide Fragen für sich mit Kirchenaustritten beantwortet, an die unter deutschen Vorzeichen (Stichwort „Kirchensteuer“) erhebliche finanzielle Konsequenzen gebunden sind.
Eine öffentliche Debatte jedoch, die mehr als nur hämisch sein will, müsste sich zunächst die Dimensionen des überlieferten und nicht aufgegebenen Selbstanspruchs des Katholizismus vergegenwärtigen. Nicht zu seiner Verteidigung, sondern um eine ernsthafte Auseinandersetzung vorzubereiten. Als ausschlaggebend erweist sich dabei der im Gegensatz zu anderen christlichen Konfessionen und in einer Interpretation des Neuen Testaments durchgehaltene Anspruch der Kirche, Stellvertreterin Gottes auf Erden zu sein – und nicht bloß eine Gemeinschaft, die moralische Normen sichtbar verkörpert.
Statt die unabschließbare Auslegung jener singulären Selbstreferenz nachzuvollziehen, muss man sich auf ihre Verdichtung im Begriff der „Unfehlbarkeit“ und auf dessen Auswirkungen für die Praxis der Kirche konzentrieren. Strikt logisch gesehen, ist das Bestehen auf Unfehlbarkeit im Zusammenhang mit der Rolle als Stellvertreterin Gottes gar nicht zu vermeiden. Offiziell allerdings wurde sie erstaunlich spät – und begrenzt auf die Unfehlbarkeit des Papstes in der Verkündigung von Glaubenswahrheiten („ex cathedra“) – von einer Erklärung des ersten vatikanischen Konzils im Jahr 1870 festgeschrieben. Und selbst innerhalb der katholischen Theologie divergieren die Meinungen darüber, welche Glaubensverkündigungen im Einzelnen als unfehlbar gelten können.
Zugleich hat sich die Kirche aber bis heute von der Unfehlbarkeit als einem ihre besondere Autorität begründenden Horizontbegriff nicht distanziert. Daraus ist ein Widerstand gegen alle Tendenzen des historischen Relativierens und der Modernisierung erwachsen (seit 1910 waren Angestellte katholischer Institutionen verpflichtet, einen „Antimodernismus“-Eid zu schwören), die dann während des zweiten vatikanischen Konzils vor 60 Jahren unter dem Programmwort „aggiornamento“ („Annäherung ans Heute“) in eine flexible Zurückhaltung gegenüber Beschlüssen und Akten der Veränderung überging. Hinsichtlich der Glaubensinhalte jedoch ist der Katholizismus wandlungsresistent geblieben. Auf eine Verabschiedung vom Zölibat etwa sollte deshalb auch angesichts scheinbar zwingender Argumente aus der Gegenwart niemand setzen.
Ebenso exzentrisch – aber nun paradoxerweise in Verbindung mit einer wenigstens nach außen neuzeitlichen Form – erscheint die Existenz der katholischen Religionsgemeinschaft als Staat, wie sie die italienische Regierung unter Mussolini 1929 aushandelte und die deutsche Regierung nach 1933 zum Abschluss von auf Dauer gestellten Verträgen nutzte.
Auch in einer akuten Krisensituation, wie sie derzeit die deutsche Kirche trifft, verpflichtet diese Staatlichkeit Bischöfe vor Ort, ihr Verhalten mit dem Vatikan zu koordinieren und auf Interessen der Weltkirche abzustellen, was immer wieder Momente der Empörung auslöst. Ebenfalls gekoppelt an den ebenso schwer zu definierenden wie global fortbestehenden Einfluss des Vatikanstaates hat die Wandlungsresistenz der Kirche allzu lange eine Überzeugung an das Funktionieren von informellen Prozessen der Vertraulichkeit erhalten, deren Akzeptanz in unserer Gegenwart längst kollabiert ist.
Als ich 1956 mit sieben Jahren am Ministranten-Unterricht teilnahm, sagte mein Vater ohne sichtbare Aufregung, ich solle ihn wissen lassen, „wenn der Priester mich anfasse“. Glücklicherweise kam es zu keinem Anlass, der mir die Bedeutung des damals unverständlichen Satzes enthüllt hätte. Doch in der Erinnerung deuten seine Worte an, dass pädophile Übergriffe schon damals eine unvordenkliche Geschichte hatten, die intern mit Mechanismen der Skandalabsorption rechnen durften.
Einen komplementären Eindruck von Weltfremdheit ruft der Bericht über das Pontifikat Benedikts XVI. hervor, mit dem der Vatikan den ehemaligen Papst derzeit zu verteidigen sucht. Er habe bei seinen Reisen immer wieder Opfer sexuellen Missbrauchs empfangen und sich mit ihnen im Gebet vereinigt. Doch selbst zu unterstellen, dass Joseph Ratzinger solche Begegnungen wahrhaftig für die beste ihm und der Kirche zur Verfügung stehende Geste der Zuwendung ansieht, rettet sein und das Ansehen seiner Institution nicht mehr.
Unfehlbarkeit, Staatlichkeit der religiösen Gemeinschaft, eingespielte Verfahren von Missbrauchstoleranz und Gebete statt effizienter Finanz- wie Therapiehilfe für die Opfer – unser erster Blick aus der säkularen Gegenwart auf das besondere Selbstverständnis und die von ihm abhängige Pastoralpraxis der katholischen Kirche scheint allein die Notwendigkeit einer Reform nahezulegen.
Immerhin besteht Anlass zu der Hoffnung, dass Vertreter der deutschen Hierarchie den spät eingeschlagenen Weg zur Unterbindung der Pädophilie-Tradition fortsetzen werden. Ihre Rede von der „heillosen Überforderung“, bei denen ihre Institution angekommen sei, macht allerdings deutlich, dass sie die Chancen auf weitergehende Erneuerungen in Richtung auf eine Demokratisierung der Kirche, wie sie sich gerade auch die Gläubigen erhoffen, angesichts der Veränderungsresistenz pessimistisch einschätzen.
Doch muss man die Diagnose einer harten Reformgrenze des Katholizismus tatsächlich als ihren „toten Punkt“ identifizieren? Vor Jahrzehnten unter deutschem Kirchensteuerdruck aus der Kirche ausgetreten, halte ich dafür, dass gerade von dieser Stelle der Debatte unser Blick auf einen ihr möglichen neuen Status in der etablierten säkularen Gegenwart fallen kann, während Demokratisierung und Säkularisierung wohl tatsächlich auf das viel beschworene Insolvenzverfahren hinausliefen.
Dabei setze ich voraus, dass sich unsere Gegenwart interne Komplexität und Differenzierung leisten kann und leisten sollte, um einer Verhärtung und Austrocknung in ihrem eigenen Gestus von Rationalität entgegenzusteuern. Gerade die Grenze, gerade der vermeintlich „tote Punkt“ der Kirche würden dann in ein Potenzial interner Belebung für die säkulare Gesellschaft umschlagen. Durch seinen betont langsamen Rhythmus in den institutionellen und durch seine Resistenz gegenüber theologischen Veränderungen hat der Katholizismus Formen von individueller und kollektiver Existenz präsent gehalten, die ohne ihn am Horizont unserer Vorstellung erloschen wären. Ein Besuch im Vatikanstaat vergegenwärtigt, wie die historische Exzentrizität der Kirche als Institution selbst die Erfahrungsintensität der in ihren Museen ausgestellten Kunstwerke überbietet.
Vor allem aber kann der Anspruch der Kirche, Stellvertreterin Gottes auf Erden zu sein, zu der Einsicht verhelfen, dass die sogenannte „Immanenz“ unserer säkularen Welt – das heißt: ihre konsequente Beschränkung auf das im menschlichen Alltag Plausible und Vernünftige – nur eine von vielen lebbaren Versionen unserer Existenz ist. Daraus folgt nicht notwendig eine Konversion zum Glauben an Sphären, die dem menschlichen Alltag übergeordnet sind. Vielmehr geht es um ein Durchbrechen der Immanenz als Beschränkung unserer Imagination.
So gesehen läge der tote Punkt des Katholizismus und langfristig gesehen auch der tote Punkt säkularer Kultur in der Überreaktion einer gnadenlos modernisierenden Reform. Ganz abgesehen davon, dass den Opfern der Missbrauchstradition mit einer Zerstörung der Kirche in ihrer Exzentrizität ja keinesfalls geholfen wäre. Eher sollten wir uns wünschen, dass aus ihrer unumkehrbaren Schuld ein Impuls zur Wiederbelebung spiritueller Kraft werden kann.
Dieser Artikel ist am 6. Februar unter dem Titel „Warum wir das Weltfremde noch brauchen“ in der WELT erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm