ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Vor etwas mehr als 500 Jahren entstand das erste Taschenbuch: ein Buch, das in die Reitertaschen der damaligen Intellektuellen zu passen hatte. Sein Verleger, Aldus Manutius, war weder der Erfinder des Buchdrucks, noch war er selbst ein großer Autor. So wie heute Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg keine großen Hardware-Erfinder oder Coder sind, war Manutius Unternehmer, und wie bei ihnen lag seine Stärke nicht in der technischen Neuerung selbst, sondern in der Erfindung des Marktes für diese Neuerung.
Gutenbergs ältere, aber einzelne, sündhaft teure Bibeln waren zwar durchaus schon gedruckte Bücher. Aber sie waren gewissermaßen Bücher auf dieselbe Weise, wie die unhandlichen Maschinen vor der Einführung der Personal Computer, der Laptops und der Smartphones auch schon Computer waren – bloß eben keine solchen, die deren Marktpotenzial ausschöpften.
Entgegen Marshall McLuhans Diktum, dass das Medium die Botschaft sei, war die eigentliche Botschaft dieser Markt: Die wirkliche Revolution war nicht die Entstehung der „Gutenberg-Galaxis“ (McLuhan), sondern die Erfindung des Manutius-Markts.
Dieser Buchmarkt, der durch die kleinformatigen Bücher entstand, eröffnete eine Art Demokratisierung des Wissens. Durch die Bücher, die auf dem Manutius-Markt zirkulierten, wurde autodidaktisches Lernen beflügelt – der Typus des Privatgelehrten konnte entstehen. Die Universitäten wiederum richteten ihr Denken nicht allein auf interne Diskussionen und internes Prestige aus. Viele ihrer Denker forderten die akademischen Zirkel immer wieder heraus, indem sie „public intellectuals“ wurden und den Buchmarkt als zweiten, provokanteren, freieren und frischeren Austragungsort ihres Denkens benutzten.
Zwischen universitärer Selbstkontrolle und gewagterer Intellektualität, wie der Buchmarkt sie förderte, herrschte lange Zeit ein Gleichgewicht. Als besonders produktiv erwies sich dieser Zustand in der „paperback revolution“: Die Erfindung des eigentlichen Taschenbuchs und der dadurch ausgelöste weitere Preisverfall des Buches führten zur großen intellektuellen Blütezeit des 20. Jahrhunderts.
Am Anfang des 21. Jahrhunderts zeichnet sich jedoch das Ende der 500-jährigen Geschichte des Manutius-Markts und mit ihm des intellektuellen Taschenbuchs ab. Dieses Ende hat zwei miteinander verwobene Ursachen.
Erstens wird die sprachliche Wissensproduktion zunehmend durch algorithmisch-mathematisches Wissen abgelöst; sprachliche Intellektualität erleidet einen Prestigeverlust. Zweitens geht diese Entwicklung mit weiteren technischen Neuerungen in der Textvervielfältigung einher: Digitale Übertragungswege lassen den Preis für die Verbreitung von Texten faktisch auf null gehen, sodass der Handel mit Texten und also auch der Markt dafür in eine kaum zu lösende Krise geraten.
In dieser Situation hat sich eine fundamentale Änderung vollzogen: Der Markt hat begonnen, das Geld nicht mehr mit der Leserschaft, sondern mit den Autoren und den Universitäten zu erwirtschaften.
Gefördert wurde dieses Geschäftsmodell von der Politik wie auch von vielen Universitäten – und zwar dadurch, dass sie Open-Access-Publikationen, also digitale Gratispublikationen, einforderten. Sie verlangten damit unwissentlich, dass akademische Bücher in den Orkus irgendwelcher Massenspeicher versenkt und dort, wenn überhaupt, von akribisch suchenden Wissenschaftlern aufgefunden werden sollten. Denn das „Open“ in Open Access täuscht: Dass diese Publikationen der ganzen Welt online frei zur Verfügung gestellt werden, besagt nicht, dass diese ganze Welt davon etwas erfährt, geschweige denn, dass sie sie findet. Im Gegenteil: Für die Öffentlichkeit wird das kritische Denken zunehmend unsichtbar.
Großkonzerne wie Elsevier oder Springer Nature haben sich auf ein Geschäftsmodell verlegt, das ohne außerakademische Leser auskommt und innerakademische Leser ebenfalls meist nur verspricht. Die Autoren stellen das Produkt (den Text, seine Formatierung und sein Lektorat) gratis zur Verfügung. Entsteht dann tatsächlich ein Buch, muss für die „Druckkosten“ entweder ein hoher Betrag gezahlt werden, oder der Preis für das Buch beziehungsweise die Online-Lizenzen wird so hoch gesetzt, dass die Universitäten, die zum Kauf verpflichteten Wissenschaftsbibliotheken und indirekt die Steuerzahler das Geschäft der Konzerne auch an dieser Stelle finanzieren.
Das einzige Marketing, das in diesem Geschäftsmodell zu betreiben ist, wird ebenfalls von den Autoren übernommen. Es ist dasjenige der institutionellen Verankerung: Wenn wissenschaftliche Karrieren und wissenschaftliche Anerkennung davon abhängig gemacht werden, in den Zeitschriften des jeweiligen Konzerns und nirgendwo anders zu veröffentlichen, ist für den Konzern so gut wie alles getan.
Gespart werden somit Buchhandel, Feuilleton, Lesungen, Verlagspräsenz an öffentlichen Veranstaltungen und Werbung – was einer Aussperrung des interessierten Publikums gleichkommt. Zudem fehlt ein die Lesbarkeit und Pointiertheit der Texte sicherstellendes Lektorat, das die außerakademische Leserschaft im Auge behielte. Alles, was es stattdessen gibt, ist das von Wissenschaftlern gratis ausgeübte Peer-Reviewing, das heißt das kritische Gegenlesen von Kolleginnen und Kollegen, die natürlich wiederum nur den akademischen Betrieb im Auge haben, gedankliche Spitzen eher abstumpfen und die Texte fast nur auf innerakademische Lesbarkeit hin trimmen.
Die Großkonzerne verfügen damit über ein risikofreies Geschäftsmodell und erwirtschaften Umsatzrenditen, die mit 30 bis 40 Prozent denjenigen der großen Tech-Konzerne ähneln. Die Wissenschaftler aber, die diese Publikationsform am vehementesten forderten, sind diejenigen, denen sie am meisten schadet. Nicht nur verlieren sie ihre Leserschaft – mit ihrer Arbeit an eigenen und fremden Texten und darüber hinaus auch mit Beträgen aus der Forschungsförderung kommen sie für die Gewinne der großen Konzerne auf.
Dieses Geschäftsmodell findet im wissenschaftlichen Betrieb nach wie vor eine Unzahl williger Mitspieler – was vor allem im Fall der eher markt-, macht- und institutionskritisch schreibenden akademischen Intellektuellen einer gewissen unfreiwilligen Komik nicht entbehrt.
Wie wird es mit dem Manutius-Markt weitergehen? Der gegenwärtige Zustand wird nicht lange andauern können. Wenn die Wissenschaft das Problem an diesem Betrieb nicht bemerkt, werden das irgendwann die Steuerzahler tun: In naher Zukunft dürften sie sich zu fragen beginnen, wo die Intellektuellen, die sie bezahlen, denn eigentlich sichtbar werden und wo ihr zu Veröffentlichungszwecken ausgegebenes Geld bleibt.
Vielleicht ist es nur ein Traum. Aber vielleicht wird man sich irgendwann doch wieder der Vorteile des Taschenbuchs entsinnen, und zwar auch seiner Vorteile als eines technisch überlegenen Mediums der Intellektualität. Erstens arbeitet es durch seine sprachliche Form nicht nur an Daten, sondern auch am Sinn. Zweitens ist es leichter zu lesen und zu memorieren als ein Bildschirmtext und somit für die Vermittlung längerer Gedankengänge allen Online-Formaten überlegen. Und drittens ist es ein Medium, bei dem man als Leser davor sicher ist, zum Lektüreobjekt von Algorithmen zu werden: Das Taschenbuch liest nicht zurück.
Dieser Artikel ist am 29. April unter dem Titel „Das kritische Denken der Intellektuellen verschwindet aus der Öffentlichkeit“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
| Shiromani Kant / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Henry Be / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Mikael Kristenson / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm