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Dr. Angelica V. Marte ist ausgebildete systemische Beraterin, Wissenschaftlerin und Führungskräfteentwicklerin. Sie arbeitet seit 1996 mit internationalen Unternehmen und Universitäten als Expertin für die Themen „Global Leadership“, „Networks“ und „Diversity“ und als Executive Coach. Sie publizierte und forschte dazu unter anderem an der Universität Witten/Herdecke, der MIT Sloan School of Management und der Universität Zürich. Aktuell ist sie Unternehmerin sowie Gastwissenschaftlerin und Senior Lecturer am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an der Zeppelin Universität und an der Steinbeis-Hochschule Berlin. Sie engagiert sich als Beirätin an der Donau-Universität Krems (Department für Interaktive Medien), im Supervisory Board des Schweizer Beratungsunternehmens DOIT- Smart und seit 2013 als zertifzierte Lehrtrainerin für systemisches Coaching am Zentrum für systemische Forschung und Beratung (zfsb) in Heidelberg.
Was kann uns eine Kunstbiennale in Dakar, Senegal, über die aktuellen Diskurse über den Platz der Kunst in der Welt und im akademischen Studium der Anthropologie sagen? Dieser Band untersucht die Dak'Art Biennale, die zu den 20 wichtigsten Biennalen der Welt zählt, und stützt sich dabei auf Feldforschung, Archivrecherchen und die Erfahrungen der Beteiligten. Auf diese Weise geben die Kapitel einen Überblick über die Auswirkungen global agierender Kunstbiennalen und leisten einen Beitrag zur aktuellen Forschung sowohl über Biennalen als auch zur Anthropologie der Kunstszene im Allgemeinen.
Nach einer halbstündigen Überfahrt taucht die Sklaveninsel Gorée auf, ein touristisches Zentrum vor der Küste Dakars. Sie ist wohl das stärkste Sinnbild für die Ära des Schmiedens. Im Haus der Sklaven, Symbol für Sklaverei, treffen sich heute Angehörige aller Nationen und Erdteile, auch Nachkommen von Versklavten und von Sklavenhaltern. Die Ausstellungen der Dak'Art geben starke Impulse zu den schwierigsten Fragen der Gegenwart: Wie kann eine gemeinsame Zukunft der Menschheit aus der Geschichte vielfältiger Verletzungen und krasser Unterschiede geformt werden?
Wie Ugochukwu-Smooth C. Nzewi, Kurator im MoMA New York, beschreibt: „In den Neunzigern wollten viele nicht als afrikanische Kunstschaffende bezeichnet werden. Heute sehen wir, dass dieses Label wieder akzeptiert wird, um selbstbewusst Geschichten aus ihrem täglichen Leben zu erzählen. Mit Narrativen, die höchst komplex und vielschichtig sind.“ Narrative, die Kolonialismus, Transkulturalität oder Grenzüberwindung aufgreifen. Für Grenzüberwindung stehen eher keine Autos, sondern Pirogen. Nzewi dazu: „Einige Kunstschaffende dieser Biennale thematisieren die afrikanische Migration nach Europa – durch Sahara und Mittelmeer. Darin sehe ich den afrikanischen Black Lives Matter Moment, den Kern von Black Lives Matter.“
Wir sind sicher wieder zurück im Musée des civilisations noires in Dakar. Im Pavillon der Elfenbeinküste wird dieser Moment, einem Aufschrei gleich, vor der Installation „Corps Écrasés“ („zerschellte Körper“) spürbar. Joachim K. Silue umschreibt seine Installation: „Kein einziger Staatschef hat in Lampedusa auch nur eine Blume für die Kinder niedergelegt, die tagtäglich im Meer umkommen. Für diese Biennale habe ich in Lampedusa Gegenstände gesammelt, um daraus Kompositionen zu gestalten, die an dieses Drama erinnern. Ein Drama, das so viele junge Leute auf ihrem Weg nach Italien durch halb Afrika und das Mittelmeer durchleben. Manche schaffen es anzukommen, andere versinken in den Fluten.“
Das Zentrum der Biennale ist zwar Dakar, mittlerweile findet sie zudem im gesamten Senegal an mehr als 400 Orten statt. Es überrascht nicht, dass sich die alltäglichen Farbspiele der Straßen, Märkte und Kleidung auch in der Kunst widerspiegeln. Wie im Werk des diesjährigen Biennale-Preisträgers Senbeto Tegene Kunbi aus Äthiopien, der in Berlin lebt und Grenzen oder „Boundaries“ überwinden will. „Kunst ist frei. Es gibt kein Afrika, kein Europa, Es ist Kunst. Das ist die Realität. Akzeptiere das. Ich mag diese Boundaries nicht. Für mich ist es wichtig, dass jede Kunst frei ist. Jeder Künstler kann jede Technik verwenden, kann schreiben, kann alles machen. Die Biennale hat uns gezeigt, wie wichtig der Austausch für diese Welt ist.“
Ein Vorhang aus weißen Acrylbahnen markiert den Übertritt in eine andere Welt. Auf den ersten – überraschenden – Blick eröffnet sich kein Bezug zur afrikanischen Gegenwart. Die Installation der senegalesischen Künstlerin Caroline Gueye mit dem Titel „Quantum Tunneling“ lädt ganz bewusst in ihre Welt ein, die Gedankenwelt der Astrophysik. Und damit zu einem individuellen Quantensprung von den staubigen Straßen Dakars mit ihrem beinahe permanenten Verkehrschaos in die kosmopolitische Kunstwelt der Biennale. So manch gängige Stereotype zu „afrikanischer“ Kunst wird hier schnell enttäuscht. Grenzüberwindung, Veränderung und damit eine klare Zukunftsorientierung sind wichtige rote Fäden, die das einmonatige Gesamtereignis der Biennale verbinden.
Für die meisten Besucher*innen ist der beeindruckend umgesetzte Tunneleffekt wohl einfach ein begehbares Kunstwerk und dankbare Kulisse für Selfies. Das gilt für die allermeisten Werke der 59 ausgewählten Künstler*innen im Ancien Palais de Justice. Am Eröffnungsabend gewinnt man leicht den Eindruck eines Tempels der Selbstinszenierung. Das unfreiwillige Opfer an den Zeitgeist hat auch eine durchaus erwünschte Kehrseite. Die sofortige globale Verbreitung afrikanischer Gegenwartskunst über soziale Medien. Ein wichtiger Multiplikatoreffekt. Bei den Adressat*innen kehren dann – hoffentlich – die aufgeworfenen Fragen der Kunstschaffenden wieder.
Manche stellen sie leise wie die in Kuba geborene Susana Pilar. Ihre Performance „Historias Negras“ gedenkt ihrer Ahnen aus dem Kongo und Sierra Leone. Ihre schwarzen Origamifiguren besetzen einen Teil des öffentlichen Raumes. Leicht übersehbar – wie das Schicksal ihrer Vorfahren – sitzt sie auf einem Kasten und formt neue, aus Japan stammende Papierkraniche mit ihren Füßen. Ihre Hände sind dabei auf den Rücken gefesselt. Das erinnert an die sogenannten Kongogräuel der belgischen Kolonialzeit, als unter der Herrschaft König Leopolds II. das Verstümmeln und Abhacken von Händen gängige Strafpraxis im königlichen Privatbesitz des Kongo war. Es ist ihr Aufruf an die Nachkommen der Kolonialmächte, ihre Geschichte zu hinterfragen und dadurch (viel zu späten) Respekt vor den Opfern zu zeigen. Nicht wenige Besucher*innen erkennen die geometrisch angeordneten schwarzen Papierfiguren nicht sofort als Kunstwerk und gehen gedankenlos durch deren Reihen. Vielleicht ist auch das so etwas wie ein Tunneleffekt, der die scheinbar überwindbare Gedankenlosigkeit jäh durchbricht. Nicht wenige erkennen sie an diesem Abend dank Susana Pilar.
Deutlich lauter mischt sich die Kunst in einem unmittelbar angrenzenden Raum ein. Aufschrei und Weckruf: Wie ein Jahrmarktschreier ruft Yrneh Gabon aus Jamaika und den USA zum Besuch seiner multimedialen Installation „König Salz“. In Anspielung an König Zucker, einem Synonym für Sklaverei, zeigt er deren Fortleben in afrikanischen Produktionsweisen der Gegenwart. Der abgetrennte Ausstellungsraum vermittelt multimedial, wie im Hier und Jetzt Salz erzeugt wird und wie darin die nur scheinbar überwundenen Strukturen der Sklaverei fortwirken. Die Vorzeichen mögen sich zwar geändert haben, aber die ökonomische Basis gilt weiterhin. Vor allem Frauen gewinnen mit ihrer Arbeitskraft und Gesundheit Salz für den Weltmarkt. Damit Meersalz um rund zwei Euro das Kilo in unseren Supermärkten steht, dürfen die Produzent*innen nicht mehr als 1,50 Euro pro 40 Kilo verdienen.
Yrneh Gabon vermählt Kunst und Aktivismus. Seine Installation besteht aus einem Boot, das auf dem Lac Rose nahe Dakar zur Salzgewinnung verwendet wird. Umgeben von 400 Salzsäcken mit aufgedruckten Gesichtern von Frauen, die dieses Salz gefördert haben. Diese Zahl ist keineswegs zufällig gewählt, wie Gabon erklärt: „400 Säcke repräsentieren die 400 Jahre des transatlantischen Sklavenhandels. Die Sklaverei hat sich auf so viele Weise vervielfältigt. Sie ist nicht verschwunden. Meine Ausstellung betrachtet alle Aspekte: die sozialen, politischen und ökologischen – bis hin zum Klimawandel.“
Der letzte Bezug wird erst verständlich, wenn man in ein Produktionszentrum von Meersalz reist – wie ins Sine Saloum Delta – und dort selbst erlebt, wie Frauen bis zu zehn Stunden täglich in den Salzgruben stehen. Dabei nicht nur ihre Beine und Arme verätzen, sondern auch – trotz Schwerarbeit – Temperaturen von mehr als 40 Grad standhalten müssen. Während wir bewegungslos im Schatten liegend und wie ein Löwe hechelnd nach Atem ringen. Im Senegal als Teil der Sahel-Zone vernichten die Klimaveränderungen die Lebensbedingungen – vor allem für die Ärmsten. Diese Installation, die auf vielen Monaten Recherche und Dokumentation beruht, schöpft alle Mittel der Konfrontation aus. Videos, Gemälde, Skulpturen und Alltagsgegenstände reichen ihr nicht.
Gabon zwingt die Besucher*innen mitunter auf die Knie, um manche Ausstellungstücke betrachten zu können: „Erst, wenn wir auf die Ebene der Menschen gehen, können wir vielleicht besser erkennen, wie wir alle gemeinsam Empowerment besser umsetzen können. Wir haben es verinnerlicht, Kunst im Vorbeigehen zu betrachten und uns nicht mit den inneren Zusammenhängen und Bezügen auseinanderzusetzen. Du musst Dich niederbeugen, um das Kunstwerk in seiner Bedeutung zu verstehen. Mir geht es nicht bloß um die Macht von Salz als riesigem Wirtschaftsfaktor, sondern um die konkreten Frauen, die hier ihr kärgliches Leben und das ihrer Familie mit Salz aus dem Lac Rose bestreiten.“
Die 14. Biennale in Dakar liefert einen Spiegel ihrer – unserer – Zeit. Soziale Gerechtigkeit, afrikanische Momente von Black Lives Matter, Identitätsthemen und allgemein die Position Afrikas in der Welt spiegeln sich in den rund 400 Ausstellungen, die über ganz Dakar und den gesamten Senegal verteilt sind. Die „Out of the Fire“-Biennale ist in sich selbst nichts weniger als ein Feuerwerk an Innovation, Inspiration und kreativer Freiheit. Das nach Antworten auf die schwierigste Frage der Gegenwart sucht: Wie ist eine gemeinsame Zukunft der Menschheit aus einer Geschichte der vielfältigen Verletzungen zu „schmieden“?
Nach dem Willen des senegalesischen Organisationskomitees ist die diesjährige Dak'Art beides zugleich: Aufschrei und Weckruf. Sie soll irritieren, provozieren, berühren und vor allem involvieren. „Ĩ Ndaffa# – Out of the Fire“ steht für Engagement, Erneuerung und Veränderung. Ihr Künstlerischer Leiter El Hadji Malick Ndiaye versteht die Biennale als Barometer für eine Welt in rasanter Veränderung – geopolitisch, kulturell, sozial und religiös: „Afrika gilt als Kontinent der Zukunft. Dafür steht der Titel ,Ĩ Ndaffa#‘, was so viel heißt wie ,Schmieden‘. Wir wollen alle Widersprüche hervorrufen, die im Begriff des Schmiedens angelegt sind: das Feuer zerstört, gibt aber auch Leben und schafft Neues. Ich denke, dass es für das heutige Afrika vor allem darum geht, aus der schwierigen Vergangenheit die Zukunft zu gestalten. Gemäß dem Motto „Out of the Fire“ das Zeitalter des Schmiedens zu beginnen.“
Titelbild und Bilder im Text:
| Dr. Angelica V. Marte und Werner Zips (alle Rechte vorbehalten)
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Angelica V. Marte und Werner Zips
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm