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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Keinen Fehler habe ich Barack Obama während der acht Jahre im Weißen Haus so übelgenommen wie den Beschluss, sich bei der Beerdigungsfeier für Muhammad Ali in dessen Geburtsstadt Louisville am 10. Juni 2016 durch Bill Clinton vertreten zu lassen, den unter Afroamerikanern beliebtesten all seiner Amtsvorgänger. Die Entscheidung entsprach Obamas sonst durchaus plausibler Strategie, als Präsident aller amerikanischen Bürger jeglichen Verdacht auf Privilegierung der eigenen Bevölkerungsgruppe zu vermeiden. Doch die dabei gewiss vorausgesetzte Anerkennung von Muhammad Ali als bedeutendstem Athleten und international berühmtestem schwarzen Amerikaner des 20. Jahrhunderts kam tatsächlich einer Unterschätzung seiner historischen Rolle gleich.
Denn niemand hat so nachhaltig wie Muhammad Ali das 20. als jenes Jahrhundert geprägt, das zum amerikanischen Zeitalter wurde. Mehr noch als durch politische Taten aufgrund des Einflusses einer neuen, „populär“ genannten Kultur, einer Kultur, welche erst seit Muhammad Ali auch den Sport einschloss. Diese populäre Kultur hob nicht nur in den Vereinigten Staaten immer wieder gesellschaftliche Spannungen auf, ohne sie zu ignorieren, und schenkte ihnen oft sogar den Eindruck einer zugewandten Sinnlichkeit, die ehemalige Probleme und Antagonismen in eine Aura von Würde verwandelte.
Dabei hatte die Sportkarriere des als Cassius Marcellus Clay Jr. geborenen Muhammad Ali eher konventionell begonnen. Nach dem Gewinn der Goldmedaille im Box-Halbschwergewicht mit nur 18 Jahren bei den Olympischen Spielen von 1960 in Rom lag der Gedanke nahe, der junge Mann könne – wie eine Reihe anderer Afroamerikaner in den drei vorausgehenden, vom großen Joe Louis eröffneten Jahrzehnten – eine Chance auf den Weltmeistertitel im Schwergewicht haben.
Dass seine Stärke kaum von der bedrohlichen Kraft einer Schlaghand abhing, sondern von überlegen schneller Beinarbeit und mithin von einer neuen Ästhetik seines Sports, die ihn für Gegner unerreichbar machte, bemerkte das Publikum erst, als Clay begann, sich selbst lautstark – wie noch kein Boxer vor ihm – „gutaussehend“ zu nennen („I am the prettiest thing that ever lived“), im Gegensatz zu den Gegnern mit ihren von Treffern markierten Boxergesichtern. Schon vor seinem ersten Weltmeisterschaftskampf im Januar 1964 hatte er so diesem traditionell gewaltsamen Sport ein im wörtlichen Sinn neues Aussehen gegeben – das allerdings auch seine Chancen gegen den als brutal geltenden und allem Anschein nach von einer kriminellen Organisation betreuten Titelträger Sonny Liston minimal erscheinen ließ.
Als Liston dann, vollkommen erschöpft und ohne einen Wirkungstreffer gelandet zu haben, zur siebten Runde nicht mehr antrat, nutzte der neue Weltmeister die internationale Medienbühne für eine weitere Innovation, die mich als damals 15-jährigen Hörer der Liveübertragung via American Forces Network Europe frappierte. Auf die Frage eines Reporters, warum er nicht schon vor der siebten Runde versucht habe, durch Knock-out zu gewinnen, antwortete der Sieger in Versform: „He wanted to go to heaven, / so I took him in seven.“ Dieses erneut dem Image des Boxens entgegenlaufende und möglicherweise zur eigenen Überraschung entdeckte Talent (Cassius Clay war in seiner Schulzeit als dyslexisch eingestuft worden) sollte er mit einer Intensität weiter kultivieren, die ihm den Rang eines Begründers der wortartistischen Hip-Hop-Dichtung eingebracht hat.
In die Zeit seines ersten Weltmeistergürtels fällt auch die Begegnung des jungen Champions mit Malcolm X, dem intellektuell charismatischen Aktivisten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und Gläubigen der afroamerikanischen Nation of Islam. Er überzeugte den plötzlich berühmt gewordenen Sportler, seinen angeblich auf einen Sklavenhalter zurückgehenden Geburtsnamen abzulegen, zunächst als Cassius X und dann als Muhammad Ali Muslim zu werden und, vor allem, eine kritische Einstellung gegenüber amerikanischer Politik zu entwickeln, die nie in prinzipiellen Antiamerikanismus umschlagen sollte.
Eher bestand Ali zeitlebens auf sein Recht als amerikanischer Bürger, die für das eigene Leben wichtigen Entscheidungen in persönlicher Unabhängigkeit zu treffen. Ausschlaggebend im Blick auf seine historisch singuläre Bedeutung wurde dabei die 1967 ausgesprochene Weigerung, aktiven Wehrdienst im damals auf dem Höhepunkt wechselseitiger Vernichtung angekommenen Vietnamkrieg zu leisten. Manche von Alis Stellungnahmen aus diesem Kontext sind bis heute legendär geblieben, etwa die Bemerkung, dass ihn „noch nie ein Vietcong ,Nigger‘ genannt“ habe. Zunächst aber trugen solche Reaktionen nur weiter zur Verurteilung des zwar sportlich sensationellen, aber sonst vor allem arrogant wirkenden Weltmeisters bei der weißen Bevölkerungsmehrheit bei.
In diesem Sinn sprachen ihm die verschiedenen nationalen Boxverbände (ein Chaosszenario ganz eigener Art) den Titel ab, während der – nun ehemalige – Weltmeister erstaunlich geduldig auf juristischem Weg sein Recht zur Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen verfolgte. Vier der potenziell besten sportlichen Jahre hatte er verloren, bis der Oberste Gerichtshof 1971 ein Urteil zu seinen Gunsten fällte. Während jener Wartezeit war Muhammad Ali vom exzentrischen Provokateur zum Helden jener amerikanischen Generationen aufgestiegen, die anlässlich des Krieges in Vietnam eine – bis heute nicht abgeschlossene – kritische Revision des Selbstverständnisses als Nation aufnahmen.
So wurde durch ihn – ausgerechnet in den Jahren ohne Titelkämpfe – Sport zum Teil der Populärkultur in ihrer spezifischen Fähigkeit, anders nicht zu schlichtende Gegensätze aufzuheben. Mit dem eleganten Boxer Muhammad Ali identifizierten sich nun jene intellektuellen Amerikaner, die seinen Sport zuvor verachtet hatten, und selbst unter konservativen Landsleuten fand er Unterstützung für das Grundrecht, in Fragen der Politik und der Religion (hier: als Wehrdienstverweigerer und als Muslim) dem eigenen Gewissen folgen zu dürfen. In der Begeisterung für Muhammad Ali vereinten sich selbst dominant weiße Gruppen der amerikanischen Gesellschaft, die zuvor in permanenter Distanz gelebt hatten.
Den Historikern scheint jedoch entgangen zu sein, dass der so schon zu Beginn der 70er Jahre als Held der amerikanischen Epoche etablierte Muhammad Ali eine andere, eher die Traditionen seines Sports erfüllende Identität als Boxer entwickelte. Bei dem Kampf als Herausforderer des mittlerweile amtierenden Weltmeisters Joe Frazier verlor er im März 1971 nach zwölf Runden harter Gegenwehr zum ersten Mal während seiner Profikarriere, und obwohl er später den Titel zurückholte und verteidigte, sprach er nicht mehr von der eigenen Schönheit und „Größe“, sondern gab zu Protokoll, dass er den Sieg als Äquivalent einer Todeserfahrung erlebt hatte: „the closest thing to dying that I know“.
Doch der neue Ali hatte nicht nur als Boxer, Muslim und Aktivist die amerikanische Nation in einem Maß der Begeisterung vereint, das ihr heute fehlt. Zugleich wurde er weltweit als eine Figur verehrt, die das neue Potenzial einer Konvergenz von sportlichem und politischem Engagement verkörperte. So fand sein dritter Kampf gegen Joe Frazier in Manila auf den Philippinen nicht weniger Aufmerksamkeit als er in New York oder Chicago geweckt hätte.
Auch der Höhepunkt in der zweiten Hälfte von Alis Boxerkarriere ereignete sich am 30. Oktober 1974 außerhalb Nordamerikas, nämlich in der Hauptstadt von Zaire, wo er den jungen Weltmeister George Foreman in der achten Runde besiegte. Für seine afrikanischen Anhänger, die ihn während der Wochen sportlicher Vorbereitung zu Tausenden mit dem Slogan „Ali, bomaye“ („Ali, bring ihn um“) auf Schritt und Tritt begleiteten, muss er die Wirklichkeit eines Existenz-Ideals gewesen sein, einer Bündelung von physischer Stärke und politischem Freiheitswillen, dem sie – zum Nachteil des verbal schwerfälligen und körperlich überlegenen Foreman – folgen wollten. Für einen Moment in Alis Leben war das amerikanische Jahrhundert mit seiner Kraft und seinem Potenzial, Widersprüche aufzuheben, global geworden.
Wie so viele außergewöhnliche Sportler versäumte Ali den richtigen Moment, um seine Laufbahn abzuschließen. Nach mehreren, auch in den Augen der Bewunderer schmerzhaften Niederlagen kehrte er ab Dezember 1981 nicht mehr in den Ring zurück – und erklärte 1984 öffentlich, dass er an Parkinson erkrankt war.
Während der verbleibenden mehr als drei Jahrzehnte seines Lebens engagierte er sich in vielen politisch und ethisch motivierten Projekten; es wurde zu Muhammad Alis zentraler Mission, die Würde eines fragil gewordenen Körpers im öffentlichen Raum zu zeigen. Als er mit der Fackel in seiner zitternden Hand das olympische Feuer der Spiele in Atlanta 1996 entzündete, begann das amerikanische Jahrhundert zu Ende zu gehen.
Nicht weil sichtbar wurde, welche Wirkung vor allem die Kämpfe gegen Joe Frazier auf Muhammad Alis Physis gehabt hatten, sondern weil jenes Jahrhundert und die von ihm erfundene Kultur ihre Erfüllung in dem afroamerikanischen Goldmedaillengewinner und Boxweltmeister, Hip-Hop-Poeten, Wehrdienstverweigerer und Patrioten mit dem unversehrten Gesicht fanden, der das Leiden, die Rechte und die irritierende Schönheit aller von Krankheit geschlagenen Menschen vergegenwärtigte.
Dieser Artikel ist am 25. Juni unter dem Titel „Held des amerikanischen Jahrhunderts“ in der Wochenzeitung „Die Weltwoche“ erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| John H. White, 1945, Photographer / Wikipedia.org (Gemeinfrei) | Link
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm