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Lucia A. Reisch, 1964 in Stuttgart geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim und schloss 1988 als Diplomökonomin ab. In Hohenheim promovierte sie 1994 summa cum laude. Nach Tätigkeiten in Stuttgart, Copenhagen oder Ludwigsburg ist sie seit 2011 ständige Gastprofessorin für Konsumforschung und
Verbraucherpolitik an der Zeppelin Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte auf den Gebieten Verbraucherschutz, Nachhaltigkeit , Verhaltensökonomik und Gesundheitswissenschaften. Darüber hinaus ist sie unter anderem Vorsitzende des unabhängigen Sachverständigenrats für Verbraucherfragen, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und Chefredakteurin des Journal of Consumer Policy.
Was ist mit dem Begriff „Nudging“ überhaupt gemeint?
Prof. Dr. Lucia A. Reisch: „Nudging“ ist ein Konzept, das der Verfassungsrechtler Cass Sunstein und der Verhaltensökonom Richard Thaler mit ihrem populärwissenschaftlichen Bestseller „Nudge“ (2008) geprägt haben. Es bedeutet wörtlich übersetzt „sanftes Anstupsen“ von Menschen, damit diese eine bestimmte Entscheidung treffen oder ein bestimmtes Verhalten zeigen – und zwar solche Entscheidungen, die die Menschen selbst treffen würden, wenn sie vollständig informiert wären und/oder ihre Intentionen in Verhalten umsetzen könnten. Daran hindern sie jedoch – systematisch – menschliche „Biases“ und „Heuristiken“, die in der Psychologie gut beschrieben sind. Als politisches Governance-Konzept ist „Nudging“ eine andere Bezeichnung für die sogenannte „verhaltensbasierte Regulierung“. Diese setzt am tatsächlichen Verhalten der Menschen und deren systematischen Verhaltens„fehlern“ an.
Können Sie das näher erläutern?
Reisch: Versteht man, wann Menschen wie auf welche Veränderungen im Entscheidungskontext reagieren, so kann man sich dies auch bei der Verhaltenslenkung durch Regulierung zunutze machen. Dies wahrt zum einen die Entscheidungsfreiheit der Individuen – man kann sich ja auch dem Reiz bewusst widersetzen, man muss ihm nicht automatisch folgen. Zum anderen werden ohnehin vorhandene Anreize bewusst verändert, um dem Individuum die Wahl einer besseren Alternative zu erleichtern. So wie man laut dem Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick nicht nicht kommunizieren kann durch Schweigen, so gibt es keine Situation ohne „Architektur der Wahl“. „Nudges“ sind also sanfte Stimuli, Verhaltensanreize, es sind keine materiellen Anreize oder Strafen, keine Gesetze, aber auch nicht bloß Information. Und auch keine „Schubser“ und schon gar keine Manipulation, denn qua Definition sind „Nudges“ als Regulierungsinstrument immer transparent.
Welche Verhaltenstendenzen beeinflussen menschliche Entscheidungen?
Reisch: Das ist eine lange Liste von etwa 50 sogenannten „Biases“, die mittlerweile von der psychologischen Forschung gut beschrieben worden sind. Darunter befinden sich unter anderem die Gegenwartstendenz, bei der langfristige Kosten, aber auch potenzieller Nutzen nicht beziehungsweise zu wenig in die Entscheidung einbezogen wird, das systematische Herausschieben von Entscheidungen und Tätigkeiten (Prokrastination), das Verharren in Gewohnheiten (Verhaltensstarre) sowie begrenzte Kontrollfähigkeit, Statuseffekte oder Herdenverhalten. Auch die Tatsache, dass die Darstellung von Information von enormer Bedeutung für die Entscheidung ist, ist ein solcher „Bias“.
Mit welchen „Nudges“ lässt sich individuelles Verhalten am wirksamsten in eine bestimmte Richtung „stupsen“?
Reisch: Cass Sunstein, der als oberster Regulierer der ersten Obama-Administration auch praktische Regulierungserfahrung hat, hat kürzlich eine Liste der zehn wirksamsten „Nudges“ vorgelegt. Einige davon sind: Vereinfachung von Anträgen und Formularen, Erinnerungen per E-Mail oder SMS bei verspäteten Zahlungen oder anderweitigen Verpflichtungen, Selbstbindungsprogramme für gesundheitsförderndes Verhalten oder das sogennante „Priming“ – darunter zu verstehen ist zum Beispiel die Veränderung der Größe von Tellern und Gläsern, um das Ess- und Trinkverhalten zu beeinflussen.
Ein Beispiel für einen sehr wirksamen „Nudge“ sind sogenannte „Defaults“, also Voreinstellungen, wie sie viele Entscheidungssituationen aufweisen – von der Art, wie die Organspende in einem Land geregelt ist (opt-in oder opt-out), über die Frage, welchen Energieanbieter und welchen Energiemix eine Neubürgerin bei Zuzug in eine Stadt in ihrem Willkommenspaket empfohlen bekommt, bis hin zur technischen Standardeinstellung des doppelseitigen Druckens, um Papier zu sparen.
An welchen Forschungsprojekten zum Thema „Nudging“ wirken Sie aktuell mit?
Reisch: Gemeinsam mit dem Institut für Verbraucherpolitik „ConPolicy“ und weiteren Kollegen bearbeite ich derzeit das UBA/BMUB-Projekt „Nudging und Nachhaltiger Konsum“. Meine an der ZU tätige Mitarbeiterin Manuela Bernauer promoviert im Rahmen dieses Projekts. In Kopenhagen leite ich zudem das fünfjährige EU-Forschungsprojekt „Nudge-it“ zur Frage, wie in der Gesundheitspolitik „Nudges“ als effektive Politikinstrumente eingesetzt werden können, um bestimmte Zielgruppen zu gesünderen Lebensstilen zu bringen. Dabei sind Gruppen von Wissenschaftlern aus ganz Europa beteiligt. Darüber hinaus arbeite ich mit Cass Sunstein an einem explorativen empirischen Projekt zur Frage, welche Arten von „Nudges“ eher akzeptiert und welche eher abgelehnt werden – und zwar in unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlicher Paternalismustradition und -wahrnehmung. Schließlich arbeite ich als Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften in Berlin unter anderem mit Ortwin Renn in der AG „Energiesysteme der Zukunft“ – hier prüfen wir, wie die verhaltensbasierte Regulierung die Energiewende voranbringen kann.
Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass sich insbesondere die Problemlagen der wirtschaftlichen Verbraucherpolitik für eine Anwendung des „Nudging“ anbieten. Warum ist das so?
Reisch: „Nudging“ eignet sich grundsätzlich für alle Politikbereiche. In der Verbraucherpolitik geht es um Verbesserungen auf der Nachfrageseite des Marktes, um Entscheidungen, die reale Verbraucher treffen, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Ziel ist häufig das Individuum, das hier so betrachtet wird, wie es wirklich (empirisch) ist und nicht, wie ökonomische Modelle sich das Individuum zurechtrücken. Ein idealer Anwendungsbereich.
In welchen Bereichen und bei welchen Politikproblemen der wirtschaftlichen Verbraucherpolitik werden bereits Elemente der verhaltensbasierten Regulierung eingesetzt?
Reisch: Die Bereiche und Politikprobleme der wirtschaftlichen Verbraucherpolitik, in denen „Nudges“ eingesetzt werden, sind vielfältig. Im Finanzwesen, im E-Commerce, bei der Förderung von Altersvorsorge und Sparen, bei Ausbildungsentscheidungen oder beim Energie- und Ressourcenverbrauch wird bereits „verhaltensbasierte Regulierung“ angewendet und umgesetzt.
Gibt es Länder, die besonders aktiv sind in der politischen Anwendung und Umsetzung von „Nudges“?
Reisch: Insbesondere in den angelsächsischen Ländern wird schon seit Jahren mit der „verhaltensbasierten Regulierung“ gearbeitet, allen voran in Großbritannien und in den USA. Aber auch Singapur und Dänemark sind engagierte Länder. In Deutschland wiederum gibt es seit 2015 eine Projektgruppe im Bundeskanzleramt, die langfristig die Ministerialbürokratie beraten soll und die sich mit der Frage beschäftigt, wie „wirksam regieren“ aussieht – dabei bildet das „Nudging“ eine Dimension. Dagegen besteht auf Länderebene noch große Zurückhaltung.
Welche gesellschaftlichen wie politischen Akteure und Institutionen beschäftigen sich explizit mit verhaltensbasierter Regulierung?
Reisch: Ganz unterschiedliche Organisationen befassen sich mit dem Thema „Nudging“: von Regierungen und politischen Parteien über Unternehmen und Verbraucher- und Umweltorganisationen bis hin zu wissenschaftlichen Einrichtungen und Akademien.
Wo sehen Sie Chancen und Grenzen des Politikansatzes „Nudging“?
Reisch: „Nudging“ ist nicht per se gut oder schlecht. Es ist ein politisches Instrument wie andere auch: Steuern, Subventionen, Ge- und Verbote, Information oder Beratung. Es kommt darauf an, zuerst die Problemlage genau zu analysieren und dann zu schauen, welcher Policy-Mix der effektivste und effizienteste ist. Und dieser muss dann auch noch verhältnismäßig sein und akzeptiert werden. Absolute Pflicht ist es, dass „Nudging“ vollkommen transparent und der öffentlichen wie parlamentarischen Debatte zugänglich ist und daher die Menschen nicht manipuliert. In einer funktionierenden Demokratie mit „Checks and Balances“ achten die Legislative, die Exekutive und die Gerichtsbarkeit darauf, dass die Ziele, die man mit „Nudging“ anstrebt, auch die der Wähler und Bürger sind. Und die wachsamen Medien und die Zivilgesellschaft tun dies hoffentlich auch.
Titelbild: Marina del Castell / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text: Daniel Lee / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Stiftung Marktwirtschaft / Kay Herschelmann (Pressebilder)
Dennis Skley / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
Campact / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Interview (redaktionell unverändert): Sebastian Paul
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann