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Klaus Mühlhahn hat am 1. Juni 2020 sein Amt als Präsident der Zeppelin Universität angetreten. Zuvor war er seit 2018 Vizepräsident an der FU Berlin für die Bereiche Forschung, Nachwuchsförderung sowie Wissenstransfer und Ausgründungen. Mühlhahn gilt als einer der renommiertesten Sinologen in Deutschland. Nach dem Studium der Sinologie und der Promotion an der FU Berlin führte ihn sein wissenschaftlicher Weg zunächst von 2002 bis 2004 als Visiting Fellow an das Center for Chinese Studies der University of California, Berkeley. Weitere Stationen waren von 2004 bis 2007 als Professor für gegenwärtige chinesische und asiatische Geschichte das Institut für Geschichte der University of Turku, Finnland, und von 2007 bis 2010 als Professor für Geschichte und außerordentlicher Professor für ostasiatische Sprachen und Kulturen die Indiana University Bloomington, USA, bevor Mühlhahn im selben Jahr als Professor für chinesische Geschichte und Kultur an die FU Berlin zurückkehrte. An der Zeppelin Universität übernimmt Mühlhahn den Lehrstuhl für Moderne China-Studien.
Selbst elementare Kenntnisse der Geschichte Chinas sind hierzulande noch immer Mangelware. Klaus Mühlhahn beschreibt in seiner umfassenden Darstellung, wie sehr das Land auf seinem Weg von der gedemütigten Halbkolonie zur globalen Supermacht unserer Tage von der eigenen Vergangenheit geprägt wurde. Denn Chinas holpriger Weg in die Moderne ist nicht nur als eine Aufholjagd gegenüber dem Westen zu verstehen, sondern als ein großes Ringen um eine eigenständige chinesische Moderne. Wer Chinas phänomenalen Aufstieg, seine Widersprüche und Gegensätze begreifen will, der kommt an diesem grundlegenden Werk nicht vorbei.
Chinas Geschichte seit dem späten 17. Jahrhundert ist durchzogen von Krisen, Reformen, Revolutionen und Kriegen. Zugleich aber hat das Land stets eine hohe Widerstandsfähigkeit und Beharrlichkeit bewiesen. Selbst im „Jahrhundert der Erniedrigung“, als europäische Kolonialmächte das Sagen hatten, konnte es eine halbsouveräne Stellung behaupten. Klaus Mühlhahn schildert in seinem großen Buch auf dem neuesten Stand der Forschung Chinas Geschichte von der Qing- Dynastie bis zu Xi Jinping und nimmt dabei von der Politik über die Gesellschaft bis zur Wirtschaft und Umwelt alle Felder detailliert in den Blick. Der Schlüssel seiner Interpretation sind die chinesischen Institutionen, die seit Konfuzius über alle Regime und Machthaber hinweg auf die jeweiligen Umstände reagiert und sie zugleich mit ihrem enormen Reichtum an Ideen und Modellen bis in die heutige Gegenwart mitgestaltet haben.
Warum ist es so wichtig, sich Chinas Vergangenheit zu vergegenwärtigen, um die aktuellen Dynamiken rund um die aufstrebende Weltmacht zu verstehen?
Prof. Dr. Klaus Mühlhahn: Die Dynamik des heutige China beruht auf Stärken und Schwächen, die jeweils tiefe historische Wurzeln aufweisen. Wenn wir uns heute mit China beschäftigen, blicken wir meist nur auf die Zeit seit den Wirtschaftsreformen in den späten 70er-Jahren. Doch um China wirklich zu verstehen, muss man weiter zurückblicken, mindestens 350 Jahre in die Vergangenheit. Im 17. Jahrhundert sind die wichtigsten Institutionen entstanden, die die Entwicklung Chinas bis in die Gegenwart beeinflusst haben.
Und diesen Zugang zur Vergangenheit bieten Institutionen und ihre Transformationen?
Mühlhahn: Institutionen sind sozusagen die organisatorische Grundlage einer Gesellschaft. Sie definieren Regelwerke, auf deren Basis Menschen zusammenarbeiten. Insofern stellen Institutionen einen hervorragenden Zugang dar, um den Wandel in der Geschichte zu verstehen.
Warum haben Sie als Ausgangspunkt für Ihre Geschichte des modernen China die Herrschaft der Qing-Dynastie (1644-1911) gewählt?
Mühlhahn: Die Qing-Dynastie stellt in vielerlei Weise eine Blütezeit der kaiserlichen chinesischen Gesellschaft dar. Zum Zeitpunkt der Dynastie war China das Zentrum der Weltwirtschaft und technologisch Europa mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Auch in kultureller Hinsicht war diese Zeit bemerkenswert vielfältig, kreativ und lebendig.
Die Geschichte des modernen China handelt von Aufstiegen und Abstiegen: Was waren die einschneidendsten historischen Phasen, die auch heute noch im kollektiven Gedächtnis der Chinesen prägend sind?
Mühlhahn: Ganz sicher im kollektiven Gedächtnis Chinas prominent platziert ist der Verfall des kaiserlichen China im 19. Jahrhundert und das Vordringen des ausländischen Imperialismus. Aber wichtiger noch sind die traumatischen Erinnerungen an die sehr zerstörerischen Bürgerkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem auch an den Zweiten Weltkrieg und den Kampf gegen die japanische Aggression.
Im vergangenen Jahr hat die Kommunistische Partei Chinas ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert: Wie hat sie das Land und wie sich selbst seither verändert?
Mühlhahn: Die Kommunistische Partei Chinas hat das Land geeint und einer zentralen Herrschaft unterstellt. Nach beinahe fünf Jahrzehnten des Bürgerkrieges war das eine beachtliche Leistung. In den 50er und 60er-Jahren allerdings folgte die Partei einer radikalen Politik der sozialistischen Umgestaltung, die als gescheitert anzusehen ist. Nach 1979 wurde dann eine pragmatische Wirtschaftspolitik begonnen, mit dem Ziel, China aus der Armut zu holen.
Worauf gründet Chinas außergewöhnliches und beispielloses Wirtschaftswachstum in der jüngsten Vergangenheit?
Mühlhahn: Die erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung Chinas basiert zum einen auf einer klugen und pragmatischen Wirtschaftspolitik, die allmählich marktwirtschaftliche Elemente in das sozialistische Wirtschaftssystem integrierte. Ein Schock oder Zusammenbruch wie in Osteuropa konnte dadurch vermieden werden. Genauso wichtig sind meiner Meinung nach aber auch die historischen Institutionen wie etwa die Familienunternehmen, die eigentlich hauptsächlich zum Wirtschaftswachstum beigetragen haben.
Zu Chinas rasantem Aufstieg zählen auch unterdrückte Menschenrechte, eine radikale Familienpolitik oder Energiegewinnung auf Kosten des Klimas. Wie passt diese harte Politik in Chinas jüngere Geschichte?
Mühlhahn: In China gibt es ein großes Vertrauen in technologische Lösungen und in die Notwendigkeit von Regierungsinterventionen. Dieses oft blinde und naive Vertrauen in „Engineering“ lässt sich auch bereits vor 1949 nachweisen. Aber genau diese Eingriffe haben auch hohe Risiken von Fehlsteuerung oder Fehlinvestitionen. Am Beispiel der Ein-Kind-Politik lässt sich das besonders deutlich zeigen. Durch radikale Regulierung sollte die Gefahr der Überbevölkerung vermieden werden. Das Ergebnis ist heute aber eine massive Überalterung der Gesellschaft, die in China noch ausgeprägter ist als in Europa.
Was meint Chinas aktueller Präsident Xi Jinping, wenn er von dem „Chinesischen Traum“ spricht?
Mühlhahn: Der „Chinesische Traum“ ist im Wesentlichen ein Propagandakonstrukt, mit dem behauptet wird, dass die Führung der Kommunistischen Partei Chinas den Traum von einer modernen, wohlhabenden und mächtigen Nation erfüllen wird. Ob es diesen Traum außerhalb der Propaganda aber je gegeben hat, ist fraglich.
Inwiefern knüpft Xis verordnete kollektive Version an das ausgeprägte Geschichtsbewusstsein der Chinesen an?
Mühlhahn: Mit dem chinesischen Traum ist auch eine bestimmte Form der Geschichtsschreibung und historischen Interpretation verbunden. Mit dem Umschreiben der Geschichte will die Partei historische Legitimität beanspruchen, weil sie einer historischen Aufgabe oder nationalen Mission folgt.
Was muss passieren, damit der chinesische Traum von einer mächtigen, wohlhabenden und fortschrittlichen Nation nicht zerplatzt?
Mühlhahn: Das größte Risiko für China ist das politische System. Ich bezweifle, dass ein kommunistischer Einparteienstaat auf Dauer eine angemessene Partizipation einer immer gebildeteren und wohlhabenderen Gesellschaft ermöglichen kann. Reformen des politischen Systems sind daher unumgänglich, wobei diese Reformen nicht unbedingt in Richtung einer westlichen parlamentarischen Demokratie gehen müssen. Vielleicht kann China eigene kreative Lösungen finden, aber ohne Veränderungen des politischen Systems wird es nicht gehen.
Titelbild:
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Bild im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm