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Geboren 1955 in Ulm, studierte Claudia Roth nach dem Abitur im Jahre 1974 Theaterwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Als Pressesprecherin der ersten grünen Fraktion im Deutschen Bundestag wechselte sie 1985 in die Politik. 1989 wurde sie ins Europäische Parlament gewählt. Dort blieb sie bis 1998, ab 1994 als Fraktionsvorsitzende der Grünen, bevor sie über die bayerische Landesliste in den Deutschen Bundestag einzog. 2001 wurde Claudia Roth erstmals Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Sie wurde 2004, 2006, 2008, 2010 und 2012 in diesem Amt wiedergewählt. 2013 schied sie als Parteivorsitzende aus und wurde am 22. Oktober 2013 zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages gewählt. Am 24. Oktober 2017 erfolgte die Wiederwahl. Ihr besonderes Engagement galt und gilt den Menschen- und Bürgerrechten, dem Klimaschutz, entwicklungspolitischen Fragen, dem Anti-Rassismus und der Kultur. Aktiv begleitet und gestaltet sie die „Eine-Welt-Politik“ und die globalisierungskritische Bewegung in Deutschland mit.
Menschenrechte sind im Jahr 2018 nach wie vor ein brandaktuelles Thema. So lassen Menschenrechtsverletzungen im syrischen Ost-Ghouta oder in Afrin sowie Waterboarding in geheimen US-Gefängnissen in Thailand einen beim Zeitunglesen erschauern. Aber auch bei uns in Europa sind die Einschnitte des Menschenrechts und der Meinungs- oder Pressefreiheit allgegenwärtig. Statt einer deprimierenden und in die Verzweiflung treibenden Aufzählung der aktuellen Menschenrechtsverletzungen zieht Roth eine positive Bilanz der vergangenen 70 Jahre, auch wenn sie das eine oder andere Mal ihre Verzweiflung angesichts der aktuellen Lage nicht verbergen kann.
Die erste Blütezeit der Menschenrechte lässt sich mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 verzeichnen, startet Roth. Seither sind die Freiheit, die Würde und die Rechte aller Menschen universell, unteilbar und unveräußerlich – es ist „der schönste Dreiklang abseits der Musik“ für Roth. Die Unabhängigkeit dieser Rechte von anderen Kategorien musste nach 1948 allerdings noch stärker betont und ausdifferenziert werden.
So gehören seit 1966 der Zivil- und der Sozialpakt der Vereinten Nationen ebenfalls zum internationalen Menschenrechtskodex. Mit ihnen wurden bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte festgehalten. Der Zivilpakt umfasst Freiheitsrechte wie die Religionsfreiheit oder das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung, Schutzrechte gegen Folter und Sklaverei sowie Wahlrechte. Der Sozialpakt dagegen fokussiert auf wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte wie das Recht auf würdige Arbeit, Asylrecht, Frauenrecht oder Familienrecht. Gerade an Letzteres sollte in der Bundestagsdebatte um Familiennachzug erinnert werden, bemerkt Roth: „Damit gemeint sind nämlich nicht nur deutsche Familien, es ist vielmehr ein universell geltendes Recht.“
Als „Meilenstein in der Entwicklung der Menschenrechte“ zählt Roth die Weltmenschenrechtskonferenz in Wien 1993. Vertreter von 171 Staaten betonten in der Abschlusserklärung und im Aktionsprogramm die Universalität der Menschenrechte und sprachen sich gemeinsam dafür aus, eigene nationale Gremien zur Überprüfung der Menschenrechte im jeweiligen Land einzurichten.
Der Menschenrechtsausschuss im Bundestag wurde dennoch erst fünf Jahre später gegründet, nachdem er zuvor nur ein Unterausschuss war. Von 1998 bis 2001 hatte Claudia Roth den Vorsitz des Menschenrechtsausschusses inne und widmete sich dieser Tätigkeit mit voller Leidenschaft und Überzeugung. Das zu glauben, das fällt nach der emotionsgeladenen Eingangsrede an diesem Abend nicht schwer. „Ich bin parteiisch, aber nicht parteipolitisch parteiisch, sondern parteiisch für die Menschenrechte“, sagt sie bis heute. Doch sie und andere Parteikollegen der Grünen wären nicht ernst genommen worden, was zum Beispiel eine Aussage des CDU-Politikers Christian Schwarz-Schilling verdeutlicht, der meint, dass es in einer Demokratie wie Deutschland keine Menschenrechtsverletzungen gäbe.
Dem widersprach Roth damals und heute vehement: Menschenrechtsverletzungen in Deutschland finden sich sowohl in der Diskriminierung von Mitgliedern der LGBT-Gemeinschaft und zeigen sich an den Rüstungsexporten, die autoritären Regimen zugutekommen, die Menschenrechte mit Füßen treten. Als sich Roth erst neulich vor Ort nach der Lage der Menschenrechte in der Türkei erkundigte, wurde ihr empfohlen, sich an die eigene Nase zu fassen, da Deutschland selbst menschenrechtsfreie Räume zulasse und unterstütze. Ihr Fazit: „Glaubwürdigkeit ist so wichtig bei diesem Thema.“ Wenn jemand sagt, dass es in Relation zu China oder dem Iran in Deutschland gut um die Menschrechte steht, so entgegnet Roth: „Die Relativitätstheorie gehört in die Physik!“ – und sowieso vergleiche sie sich nicht mit autokratischen Regimen.
Und wie steht es mit der Wirtschaft? „Wirtschaft ist kein unpolitisches Subjekt und verantwortlich für Menschenrechtsverletzungen in der gesamten globalen Wertschöpfungskette.“ So waren beispielsweise in der Textilfabrik in Bangladesch, die 2012 abbrannte und hunderten Menschen das Leben kostete, auch deutsche Firmen beteiligt. „Es ist die Aufgabe der Politik, den überfälligen Paradigmenwechsel im globalen Handel herbeizuführen“, mahnt Roth.
Trotz der unzähligen Verletzungen sind Menschenrechte verbindlich und einklagbar. Die Nachhaltigkeitsziele der UN (die sogenannten „Sustainable Development Goals“) dagegen nicht, während sie in Zukunft maßgeblich für die Situation vieler Länder sein werden. Es sei die Aufgabe der jüngeren Generationen, die Erhaltung von Frieden (SDG 16) und Schutz der Natur (SDG 13) ernst zu nehmen. „Wenn die SDGs verbindlich sind, dann haben wir es weit geschafft“, betont Roth. In einem emotionalen Plädoyer bittet sie die jungen Menschen, sich heutzutage „neben der politischen Kleinstarbeit auch an die großen Brocken zu wagen und die Folgen der Globalisierung sicher zu stellen“. Nur mit Empathie und Wachsamkeit könne ein gutes Miteinander gewährleistet werden: Auch Kinder- oder Rentenarmut in Deutschland verletze die Würde. „Demokratie und Frieden wachsen nur da, wo die Würde des Menschen unantastbar ist!“ Es sei an der Zeit für eine weitere Blütezeit der Menschenrechte.
Titelbild:
| geralt / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Lena Reiner (alle Rechte vorbehalten) / menschenfotografin.de
| Lena Reiner (alle Rechte vorbehalten) / menschenfotografin.de
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm