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Noah Peters hat von 2016 bis 2020 den Bachelorstudiengang „Sociology, Politics and Economics“ an der Zeppelin Universität studiert und währenddessen den Behavioural Science Club an der ZU mitgegründet und geleitet. Im letzten Studienjahr hat er im Rahmen eines Forschungssemesters an der Copenhagen Business School zu verhaltensökonomischen Anwendungen gesunden und nachhaltigen Kaufverhaltens geforscht. Im Moment studiert Peters im Masterprogramm „Social Research Methods“ an der London School of Economics and Political Science.
Der Begriff Nudging ist zwar mittlerweile in aller Munde, aber kannst Du noch einmal grundsätzlich erklären, worum es dabei geht?
Noah Peters: Nudges sind kleine Anpassungen der sogenannten Entscheidungsarchitektur, die menschliches Verhalten gezielt in eine bestimmte Richtung lenken, dabei aber Entscheidungsfreiheit gewährleisten. Wichtig ist, dass der Nutzen und die persönlichen Ziele der Menschen im Vordergrund stehen. Es soll erleichtert werden, selbst gesetzte Vorhaben wie gesunde Ernährung zu erreichen oder eine „gute“ Wahl zu treffen. Begründet wurde dieses Konzept durch Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler und den Juristen Cass Sunstein. Es basiert auf Erkenntnissen der Verhaltensökonomik, die vom Menschenbild des rationalen Nutzenmaximierers abrückt. Menschen neigen zu Fehlern und kognitiven Verzerrungen, sodass ein kleiner Stups helfen kann, um Individuen in ihrem Verhalten zu unterstützen. Die Nährstoffampel auf Lebensmittelverpackungen oder die Streifen auf dem Supermarktboden zur Einhaltung von Abstandsregeln sind nur einige Beispiele.
In Deiner Arbeit bist Du dem Thema Nudging im Supermarkt nachgegangen. Kannst Du uns kurz die Inhalte Deiner Forschung und die zentralen Ergebnisse skizzieren?
Peters: Von meinen Betreuern an der Copenhagen Business School habe ich Daten aus einem Online-Experiment zur Verfügung gestellt bekommen. In der Studie wurde untersucht, wie verschiedene Nudges das Einkaufsverhalten amerikanischer Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer beziehungsweise die Wahl gesunder Produkte in einem Online-Supermarkt beeinflussen. Ich habe mich gefragt, ob die Ernährungslandschaft – das heißt konkret die Anzahl verschiedener Nahrungsmittelgeschäfte im Verhältnis zur Bevölkerung – die Wirkung der Interventionen beeinflusst. Anschaulich formuliert: Wie wirken die Nudges in Gegenden mit besonders vielen Fast-Food-Ketten oder – im Gegensatz dazu – in Ortschaften mit einer hohen Anzahl vollwertiger Supermärkte?
Meine Ergebnisse lassen vermuten, dass solche Effekte eher nicht existieren. Nudges sind also mehr oder weniger gleich effektiv in verschiedenen Ernährungsumgebungen. Allerdings müssen die Resultate sehr kritisch betrachtet werden. Die Datenstruktur hat die mir zur Verfügung stehenden statistischen Instrumente recht stark eingeschränkt. Daher sind Nachfolgestudien wichtig.
Was beeinflusst die Auswahl von Lebensmitteln im Supermarkt – der Preis, die Position im Regal oder am Ende auch die Kalorienanzahl auf der Verpackung?
Peters: Ernährungsentscheidungen sind ein zentrales Anwendungsfeld der Verhaltensökonomik. Dabei kann praktisch jede Gestaltungsform von Supermärkten und Verpackungen das Kaufverhalten beeinflussen; das kennt man ja aus dem klassischen Marketing. Wichtig ist daher die Erkenntnis, dass Menschen nicht unbedingt wohl informierte Entscheidungen treffen, wenn sie einkaufen. Das kennt ja jeder, wenn er oder sie gestresst oder müde ist.
Dann kann man nicht erwarten, dass sämtliche Verbraucherinnen und Verbraucher die Kalorienanzahl eines jeden Artikels studieren und zusammenrechnen. Viel entscheidender sind dann Routinen und internalisierte Praktiken, die sich viel schwerer ändern lassen als Einzelentscheidungen.
Letztlich sind Preise aber auch ein entscheidendes Kaufkriterium, weshalb Steuern oder Subventionen nach wie vor eine große Lenkwirkung haben. Welche Nudging-Möglichkeiten gibt es, um Verbraucher zu einer gesünderen Lebensweise „anzustiften“?
Peters: Um eine gesunde Ernährung „anzustiften“, können kleine Aspekte hilfreich sein. Das beginnt mit der Positionierung der Produkte im Supermarkt, geht weiter über die besagten Kalorienampeln wie dem nun in Deutschland eingeführten Nutri-Score und endet bei der Gestaltung von Einkaufswagen. Einige Studien untersuchen zum Beispiel den Effekt von Einkaufswagen, die mit unterschiedlich großen Fächern für Obst, Gemüse, Fleisch und andere Kategorien ausgerüstet sind.
In Kantinen haben sich Experimente etabliert, welche die Anordnung der Gerichte verändern. So können zum Beispiel vegetarische Gerichte am Anfang platziert werden. Dies ist oftmals erfolgreich, weil Erkenntnisse aus der Psychologie zeigen, dass viele Menschen bereit sind, den Status quo sowie vorausgewählte Entscheidungen anzunehmen. Ein weiteres, anders motiviertes Beispiel sind Tellergrößen oder Glasformen, die unbewusst das Essverhalten beeinflussen. Darüber hinaus sind auch kleine Erinnerungen im Alltag sowie das Bespielen sozialer Normen denkbar, um bei einer gesunden Ernährungsweise zu unterstützen.
All diesen Interventionen ist gemein, dass sie keine klaren Anreize oder Preissignale setzen, wie es Verbote oder Steuern tun würden. Auch bleibt die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit erhalten, da die Konsumentinnen und Konsumenten sich den genannten Anpassungen ja nicht beugen müssen.
Wie ist Nudging politisch einzuordnen? Schließlich will uns da jemand – zum Beispiel der Gesetzgeber – seinen Willen aufzwingen. Und das am besten, ohne dass wir es merken.
Peters: Meine bisherigen Antworten lassen sicher vermuten, dass ich mir diese Auslegung nicht zu eigen machen würde. Natürlich ist es möglich und auch Realität, dass die Instrumente des Nudging ausgenutzt und Konsumentinnen und Konsumenten hinter das Licht geführt werden. Dennoch sollte sich jede Intervention daran messen lassen, ob sie eine freie Entscheidung ermöglicht und transparent darlegt, was hier vorgeht. Dies ist möglich, wenn man Menschen zum Beispiel ermutigt, eine aktive Wahl zu treffen. In der Tat zeigen viele Untersuchungen, dass transparente Nudges nicht weniger effektiv sind als vermeintlich manipulative Eingriffe.
Zudem gibt es deutliche Belege, dass diese Art der Verbraucherpolitik über verschiedene Kulturkreise und Parteigrenzen hinweg akzeptiert ist. Entscheidend scheint aber zu sein, zu welchem Zweck Nudging genutzt wird. Davon hängt auch die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ab. Deshalb sind demokratische Prozesse und Kontrollinstanzen unerlässlich, um zu bestimmen, wie die Verbraucherpolitik das Konsumverhalten beeinflussen darf. Diese Debatten werden bekanntlich intensiv im Kontext der Nachhaltigkeit geführt und betreffen auch jedes andere Steuerungsinstrument wie Ge- und Verbote sowie Steuern. Die Frage nach der Rolle staatlicher Eingriffe und Lenkwirkungen ist daher viel universeller. Daher sollte Nudging ähnlich und vor allem kontextabhängig diskutiert werden. Eine Pauschalkritik ist genauso unangebracht wie ein Blankoscheck.
Im Internet dürfte Nudging deutlich schwieriger werden. Schließlich haben Verbraucherinnen und Verbraucher viel mehr Informationsmöglichkeiten. Wie erfolgreich kann die Idee im Netz funktionieren?
Peters: Eine wiederkehrende Frage in der Verhaltensökonomik ist, wie sinnvoll eine hohe Zahl von Informationsmöglichkeiten ist. Die bloße Präsenz von Alternativen kann beeinflussen, wie Menschen wählen. Daher kann die Unübersichtlichkeit und Grenzenlosigkeit des Internets auch ein Nachteil sein. Vor allem ist das Netz das beste Beispiel, wie Nudging nicht eingesetzt werden sollte. Wie oft habe ich schon Programme heruntergeladen, die ich nie haben wollte, einfach, weil ich ein Häkchen übersehen habe? Wie häufig akzeptiere ich auf Webseiten einfach alle Cookies, bloß weil ich sie nur schwerlich abstellen kann? Somit sollte die Entscheidungsarchitektur im Internet ermöglichen, die vielen Fallstricke möglichst einfach zu navigieren. Dies betrifft zum Beispiel das Setzen und Abwählen von Cookies, die Verfügbarkeit und Verständlichkeit von Datenschutzrichtlinien sowie den Umgang mit personalisierten Inhalten.
Um hier einen Anstoß zu geben, hat das Forschungszentrum Verbraucher, Markt und Politik (CCMP) der Zeppelin Universität kürzlich einen umfassenden Bericht über die Chancen und Risiken Künstlicher Intelligenz in der Verbraucherpolitik veröffentlicht. Ich habe als studentische Hilfskraft an dem Report mitgearbeitet und bin sicher, dass sich in diesem Feld viel tun wird.
Welchen Einfluss haben in Deinem Experiment Online-Supermärkte auf die Kaufentscheidungen von Menschen gehabt? Kauft man im Netz gesünder oder ungesünder ein?
Peters: Diese Frage stand im Experiment tatsächlich gar nicht im Vordergrund, sondern war eher durch praktische Berücksichtigungen motiviert. Dennoch ist es natürlich richtig, dass Verbraucherinnen und Verbraucher im Internet anders einkaufen. Dies wird zu einem großen Teil durch die eben genannten Strategien der Anbieter und Webseiten beeinflusst. Das Internet bietet natürlich viel mehr Möglichkeiten, um Produktanzeigen und sogar Preise zu personalisieren. Darüber hinaus ist es bequem, und die großen Rabattschlachten sind verführerisch. In jedem Fall verändern sich hierdurch Konsumgewohnheiten, und das Internet bietet Vorzüge wie auch Nachteile. Daher kann die Frage nach gesunder oder ungesunder Ernährung sicher nicht pauschal beantwortet werden. In der Forschung tut sich hier allerdings viel. Aus dem Marketingbereich sind Studien bekannt, die das sogenannte Eyetracking anwenden, eine Methode, die die Blickrichtung von Verbraucherinnen und Verbraucher verfolgen und daher Rückschlüsse auf die Gestaltung von Webseiten ziehen kann.
Aktuell willst Du Deine erfolgreiche Erstarbeit um weitere Faktoren erweitern; etwa um soziologische und andere Makrofaktoren. Wie gehst Du dabei vor und welche Ergebnisse erwartest Du?
Peters: Die Verhaltensökonomik ist sehr stark auf die Psychologie und individuelles Verhalten fokussiert. Daher wollte ich in meiner Arbeit gezielt untersuchen, wie sich Faktoren einer höheren Ebene, in meinem Fall die Ernährungsumgebung, auf individuelles Verhalten auswirken. Ich bin überzeugt, dass diese Wechselwirkungen stärker berücksichtigt werden müssen. Die sozio-ökologische Psychologie bietet hier interessante Ansätze. Dabei wird untersucht, wie externe Faktoren kognitive Prozesse bedingen.
Des Weiteren liegt mir die Integration soziologischer Theorien in das Repertoire der Verhaltensökonomik am Herzen. Zum einen möchte ich untersuchen, wie sozio-ökonomische Faktoren, wie der Habitus, irrationale Verhaltensweisen determinieren. Ideale ökonomischer Rationalität sind für Funktionseliten eingängig und etabliert, doch marginalisierte Gruppen neigen möglicherweise zu stärker irrationalem Verhalten. Dies bietet wichtige Rückschlüsse für die Entwicklung verhaltensbasierter Interventionen.
Zum anderen interessieren mich die konzeptionellen Unterschiede zwischen Verhalten und Praktiken. Einige Soziologinnen und Soziologen kritisieren, dass die Ökonomik und Psychologie zu stark auf einmalige Entscheidungen und Verhaltensweisen fokussiert sind. Vielmehr sei menschliches Verhalten in Praktiken und Routinen eingebettet, die sich nicht mit einer einfachen Intervention ändern ließen. Ich bin sicher, dass die Verhaltensökonomik hier viel zu bieten hat und als Bindeglied zwischen diesen konträren Positionen dienen kann. Daran arbeite ich gerade im Rahmen eines Buchkapitels.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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| Cz ja / Eigenes Werk (CC0 Public Domain) | Link
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm