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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Natürlich kann man auf die Anämie, auf die – wie es aussieht – finale Anämie der Freien Demokratischen Partei in Deutschland mit Schadenfreude reagieren. Denn sie lässt sich als „Bestrafung“ durch die Wähler für eine über Jahrzehnte in den Erfolgs-Margen optimierte politische Praxis deuten, mit der die FDP ihre Stellung zwischen den beiden großen „Volksparteien“ als Mehrheits-notwendiger und mithin für politische Entscheidungen ausschlaggebender Koalitionspartner nutzte – um den Preis fortschreitenden Identitätsverlusts. Seit sich jene Struktur eines Zwei-Parteiensystems mit flexibel oszillierendem dritten Element auf eine größere (und anscheinend weiter wachsende) Zahl von Parteien geöffnet hat, ist der Stimmenanteil der früheren „Liberalen“ beständig zurückgegangen und liegt mittlerweile bundesweit so deutlich unter der für die Wahl in Parlamente zu überwindenden Fünf-Prozent-Grenze, dass die Dynamik ihrer Abwärts-Bewegung unumkehrbar geworden zu sein scheint. Verschiedene andere Parteien haben vom Implosions-Prozess der Freien Demokraten profitiert: zunächst war er eine Bedingung für den langfristigen Aufstieg der Grünen zu einer neuen, in ihren Inhalten und ihrer Identität deutlicher konturierten dritten politischen Kraft; es folgte die außergewöhnlich kurze Strecke der vom Rausch elektronischer Kommunikation agitierten „Piraten“ – und inzwischen sind wir bei der Gegenwart der „Alternative für Deutschland“ angelangt, im Bezug auf die noch nicht deutlich ist, ob sich ihre Mitglieder und Wähler zu einer neuen und stabilen Position der Mitte zusammenfinden werden.
Mit den beiden Ausnahmen der Partei des demokratischen Sozialismus und der Nationaldemokratischen Partei am linken und am rechten Ende des deutschen politischen Horizonts haben alle Parteien innerhalb dieser Entwicklung an ideologischem Profil verloren, doch wirklich aufgelöst, ohne Rest und fortwirkende Erinnerung anscheinend, hat sich allein die bürgerlich-liberale Tradition. Bis zurück in die frühen Jahre der Bundesrepublik hatte sie, verkörpert von Protagonisten wie Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher, Erich Mende und Thomas Dehler, eine die Gesellschaft entscheidend prägende Wirkung entfaltet — und mit Theodor Heuss die emblematische Figur des ersten Präsidenten in einem der damals zwei neuen deutschen Staaten gestellt, dessen politischer Stil auf demokratische Tendenzen im frühen zwanzigsten und späten neunzehnten Jahrhundert zurückverwies. Es war die Mentalität eines aufstiegsorentierten Bürgertums, das parlamentarisch-demokratische Strukturen in der Politik als unverzichtbare Bedingung des eigenen Erfolgs ansah und zugleich den Freiheits-begrenzenden Einfluss des Staates, in dem sich diese konkretisierten, zu minimieren versuchte. Eben jener unnachgiebige Widerstand gegen das Wachsen und gegen die möglichen Übergriffe des Staates zum Nachteil der individuellen Freiheit und Beweglichkeit war in einigen westeuropäischen Nationen der Bezugspunkt für das Adjektiv „radikal“ im Namen der entsprechenden Parteien gewesen.
Doch nicht allein im politischen Spektrum der Europäischen Union ist das Schicksal der Freien Demokraten keine Ausnahme — sondern der vielleicht deutlichste und sich am schnellsten vollziehende Fall eines für unsere Gegenwart signifikanten – aber bisher beinahe systematisch übersehenen – Trends. Dieser Trend liegt im Verlöschen der Energie lebendiger Tradition. Nach seiner klassischen Ausformung gehört der Begriff der „lebendigen Tradition“ zum Handlungs-gestaltenden Ideenrepertoire des historischen Weltbilds, wie es sich im Übergang vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert herausgebildet und dann sehr schnell zu einer institutionellen Form verhärtet hatte, die alternativenlos und also „natürlich“ aussah. „Tradition“ war jeder Rückbezug auf eigene kollektive Vergangenheiten, dem es um Orientierung bei der Gestaltung der eigenen Zukünfte ging; „Tradition“ war das Festhalten an Linien der Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter der Voraussetzung, dass Zeit ein universaler Agent von Veränderung sei. Genau diese Spannung zwischen Kontinuität und Veränderung, ihre – aus logischer Perspektive gesehen — paradoxale Beziehung erklärt den Eindruck von „Lebendigkeit“ innerhalb von Kontinuitäten der Tradition. Und genau in diesem Sinn ist die bürgerlich-liberale Tradition für die Freien Demokraten in Deutschland schon vor zwei Jahrzehnten aufgehoben gewesen, während die Tradition des christlichen Humanismus für die CDU und die Tradition des Sozialismus für die SPD nur graduell an Energie — und mithin an Einfluss – verlor.
Wenn aber die Energie lebendiger Traditionen bis zu einem Nullpunkt zurückgehen kann, dann werden ihre früher aus der Vergangenheit wirkenden Bezugspunkte zu differenzierenden, doch nicht mehr handlungsprägenden Komponenten in gegenwärtigen Identitätskonfigurationen. Die beiden heute führenden Unternehmen und Clubs der Fußball-Bundesliga, Bayern München und Borussia Dortmund, können diese Entwicklung veranschaulichen. 1909 gegründet, geht Borussia Dortmund genealogisch auf die lebendige Tradition der katholischen Arbeiterjugend zurück. Natürlich hat diese proletarische Tradition – zumal in ihrer katholischen Ausprägung – heute keinerlei Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen des Unternehmens Borussia Dortmund mehr oder gar auf den Stil des Spiels, welcher seine Mannschaft charakterisiert. Denn eine solche Traditionsorientierung würde ja Wahlmöglichkeiten auf allen Ebenen und in allen Dimensionen so drastisch reduzieren — wie das tatsächlich bei der einen großen Ausnahme im europäischen Fußball der Fall ist, bei Athletic Bilbao, einer Organisation, die sich bis heute allein auf Spieler aus baskischen Familien verlässt.
Im Normalfall jedoch hat, was früher lebendige Tradition gewesen sein mag, so wenig Einfluss auf das Handeln in der Gegenwart wie die Farben der verschiedenen Clubs. Bayern München etwa hat seit einigen Jahren die Zeit vor der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten zum Teil seines öffentlichen Bildes gemacht, weil damals Figuren aus dem jüdischen Bürgertum der Stadt die Mannschaft und ihre Organisation prägten. Daraus können sich – wie im Fall der proletarischen Frühgeschichte von Borussia Dortmund (oder Schalke 04) – gewisse Sympathiewerte ergeben, aber unter heutigen Bedingungen keinerlei Verhaltens- oder Handlungsvorgaben. Selbst die singulär erfolgreichen Jahre von Bayern München unter der Führung von Uli Hoeneß sind nach seinem durch das Rechtssystem erzwungenen Rücktritt nicht ausschließlich zu einer Vorgabe für zukunftsprägende Entscheidungen geworden, sondern auch zu einem Kontrasthintergrund für Variationen in der Unternehmens-Strategie.
Analoges gilt mittlerweile für Universitäten, für machtvolle Zweige der Wirtschaft, zum Beispiel für die Auto-Industrie (wo der VW-Käfer ein Emblem ist, doch längst keine Orientierung mehr für die Zukunftsstrategien von VW) oder für die politische Ausrichtung bestimmter Berufsgruppen. Auf der anderen Seite existieren – deutlich an der Freizeit-Peripherie des wirtschaftlich produktiven Alltags – Möglichkeiten einer linearen Ausrichtung an Traditionen. Die Mitglieder der sogenannten „schlagenden“ Studentenverbindungen oder der Karnevalsvereine halten bis zur Ebene von funktional ganz und gar irrelevanten Details an Vorgaben aus der Vergangenheit fest und gewinnen gerade auf diese Weise eine Identität im Kontrast zu Formen der lebendigen Tradition, aber auch im Kontrast zur heute dominant gewordenen unbegrenzten Variationsflexibilität. Genauer könnte man sagen, dass es dabei um die Meta-Identität eines besonderen – und besonders exzentrischen – Verhältnisses zur Vergangenheit geht, welche eine spezifische (freiwillig oder unfreiwillig ironische) Konfiguration mit inhaltlichen Verhaltensselektionen (mit dem freiwilligen Gebrauch scharfer Waffen, mit der spielerischen Ausrichtung an aristokratischen Verhaltensformen) verbindet.
Ohne Zweifel gehören all diese Beobachtungen zu einer Zone des Übergangs, in der grundsätzlich mögliche Veränderungen sich abzeichnen, ohne bisher noch zu neuen stabilen Situationen geworden zu sein. Die Orientierungs-Autorität der Vergangenheit scheint abgeschwächt, aber zugleich ist das Wissen von der Vergangenheit bestimmter Institutionen gewachsen und in den Vordergrund ihres öffentlichen Bildes getreten. Ich glaube, dass diese Tendenz auf eine Veränderung in der sozialen Konstruktion von Zeitlichkeit reagiert, unter der wir mittlerweile unseren Alltag erleben und unter der wir uns in ihm verhalten. An die Stelle der „historischen Dynamik“, in der wir die Vergangenheit hinter uns ließen, um mit ihr als Orientierung in einer Gegenwart des Übergangs die Zukunft zu gestalten, ist für die meisten von uns im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert der Eindruck einer sich verbreiternden Gegenwart getreten, welche Vergangenheit wie Zukunft absorbiert und zum Teil eines Universums simultaner Möglichkeiten gemacht hat. In dieser breiten Gegenwart steht nicht allein die Gestaltung der Zukunft im existentiellen und institutionellen Vordergrund, sondern die Auswahl und die Ausbildung einer Differenzierung unter einer zugleich bedrückenden und befreienden Vielfalt der Möglichkeiten.
Sollte die These zutreffen, dann wäre eine Renaissance der Freien Demokratischen Partei in Deutschland eher als Kopie eines Verhaltensstils aus dem späten neunzehnten Jahrhunderts denkbar denn als eine produktive Umformung im Sinn von „lebendiger Tradition“. Als eine periphere Möglichkeit gehörte aber auch die Form der „lebendigen Tradition“ selbst zu den Möglichkeiten der breiten Gegenwart. Wobei, das sollte deutlich geworden sein, mir am Überleben der FDP, Tradition hin oder her, viel weniger liegt als am Leben von Borussia Dortmund – und selbst von Bayern München.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen“ von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: photörhead.ch / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Ingmar Zahorsky / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
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„Bernd Lucke auf der Bundeswahlversammlung am 24.1.2014“ von Mathesar - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.
„Bush senior und Hans-Dietrich Genscher“ von Biddle, Susan. Records of the White House Photograph Office, 01/20/1989 - 01/20/1993 (Collection GB-WHPO) - http://bushlibrary.tamu.edu/photos/photos.php. This media is available in the holdings of the National Archives and Records Administration, cataloged under the ARC Identifier (National Archives Identifier) 186404. Lizensiert unter Public domain über Wikimedia Commons.
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann