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Dr. Joachim Landkammer wurde 1962 geboren und studierte in Genua und Turin. Nach seinem dortigen Philosophiestudium, abgeschlossen mit einer Arbeit über
den frühen Georg Simmel und einer ebenfalls in Italien durchgeführten Promotion über den Historikerstreit, hat Joachim Landkammer als Assistent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. W. Ch. Zimmerli an den Universitäten Bamberg, Marburg und Witten/Herdecke gearbeitet. Seit 2004 ist er Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität und Verantwortlicher des artsprograms der ZU für den Bereich Musik.
Joachim Landkammer arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit und einer gewissen journalistischen Textproduktion an verschiedenen interdisziplinären Themen in
den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie, der Ästhetik und der Kulturtheorie. Ein dezidiertes Interesse gilt dem Dilettantismus und der Kunst- und Musikkritik.
Bald werden die angeblich so „besinnlichen“ Adventswochen wieder zur „Prüfungszeit“, zumindest überall da, wo – wie an der ZU – gemäß dem angelsächsischen, akademischen Kalender das Herbstsemester zu Ende geht, bevor uns das liebe Weihnachtsfest ins Haus steht. Es wird also bald wieder viel von „Stress“, „Prüfungsangst“, „Überforderung“, „krankheitsbedingter Hausarbeitsabgabefristverlängerung“ und vielleicht auch vom Sinn und Unsinn von „Leistungskontrollen“ und „Leistungsnachweisen“ die Rede sein. Und in der Tat kann man sich fragen, wofür die akademische Ausbildung – oder wie immer man den Zweck nennen will, um dessen Willen man studiert – eigentlich so etwas wie Prüfungen braucht.
Vielleicht darf man diese Frage vor dem Hintergrund des Skandals um die amerikanische Aufdeckung der Betrügereien bei den VW-Abgaswerten neu stellen. Denn man könnte Parallelen ziehen zwischen einer Abgasregelungs-Software, die auf dem (und nur für den) offiziellen Prüfstand „gute“ Werte vortäuscht, die im Normalbetrieb nie erreicht werden, und dem Schüler beziehungsweise Studierenden, der in der (und für die) Prüfung einen offiziellen Leistungsnachweis erbringt, damit ihm ein Wissen oder eine Kompetenz bescheinigt wird, über die er im späteren, normalen Leben vielleicht gar nicht verfügt. Der Verdacht einer Diskrepanz zwischen einer amtlich attestierten und einer real vorhandenen, tatsächlich einsetzbaren Fähigkeit muss dabei gar nicht sofort Betrug und Täuschung unterstellen, obwohl auch das ja vorkommen soll – zum Beispiel in Form des Plagiats – und obwohl der grundsätzliche Verdacht gegenüber sogenannten „Attesten“ sich ja gerade bei den sich zur Prüfungszeit erstaunlich häufenden ärztlichen Bescheinigungen aufdrängt.
Vielmehr ist die Frage, ob viele Prüfungssituationen nicht prinzipiell zur Vortäuschung „falscher Tatsachen“ einladen, ja diese geradezu fordern – zumindest in dem Sinn, dass die eigentlich als Können oder Wissen nachzuweisenden Kompetenzbestände unter den besonderen, begrenzten und „künstlichen“ Umständen einer rechtlich streng geregelten „Prüfung“ eben gar nicht angemessen dargestellt, gezeigt und bewertet werden können. Jede Prüfung kann doch immer nur eine Art Simulation sein: Was liegt dann näher, als dass der Geprüfte das zu Prüfende ebenfalls simuliert? Wir alle kennen und beherrschen die „Software-Tricks“, mit denen man die institutionellen Prüfdispositive hintergeht, von denen unsere Titel und Atteste abhängen: geschickte Themenselektion, passgenau gespeicherte Antworten aus dem Kurzzeitgedächtnis, gewandte Rhetorik, souveränes Auftreten und nicht zu vergessen: der Hinweis auf die intensive Prüfungsvorbereitung (man hat sich ja „so bemüht“) und so weiter und so fort.
Was immer das Bestehen einer Prüfung sonst noch attestieren soll – und das ist meist eine ganze Menge – , es attestiert eigentlich nur genau dies: dass man eben eine Prüfung bestanden hat. Die Prüfungskompetenzsimulationskompetenz hat funktioniert. Dass man dann etwas – und was man dann – wirklich „kann“, steht auf einem ganz anderen Blatt als der dann ausgestellten Bescheinigung. Und das, obwohl nur das wirkliche Können, der Normalbetrieb auf freier Strecke, ja geprüft und sichergestellt werden sollte.
Gibt es Auswege aus dem Dilemma? Soll man Prüfungen abschaffen? Muss man grundsätzlich misstrauisch werden und immer noch einmal „nachprüfen“? Wer prüft die Prüfer – zum Beispiel beim ADAC oder bei der Stiftung Warentest? Zweifelsohne reagieren schon eine Reihe von kompensatorischen Test- und Bewertungsverfahren implizit auf die bekannte, aber gern verschwiegene Unzulänglichkeit amtlicher Prüfungen, und sei es nur die Tatsache, dass sie von den amtlich bestellten Prüfern selbst gar nicht mehr ernst genommen werden. Man „nimmt“ halt Prüfungen „ab“, man hält sich peinlich genau an alle formalen Vorschriften, wohl wissend, dass jenes reale, außerhalb der Schule („non scholae...“) einsetzbare Können, das der Prüfungserfolg dann garantieren soll, gar nicht Gegenstand der Examinierung und Bewertung ist.
Vermutlich ist der gegenwärtige Hype des sogenannten „lebenslangen Lernens“ nur die verbrämte Form eines lebenslangen Prüfens, das unter falscher Flagge die unvermeidlichen Defizite der traditionellen Prüfungsverfahren ersetzt. Dass man „nie auslernt“, wäre dann nur der euphemistische Ausdruck dafür, dass man das, was man laut den bisher vorweisbaren Kompetenzattestaten und Bildungstiteln eigentlich längst können müsste, de facto eben noch immer nicht kann.
Wir sind eben alle mit einem „staatlich geprüften“ VW-Dieselmotor unterwegs: laut Prüfsiegel „BlueMotion“ (alle mit der Eins vor dem Komma!), aber kaum fahren wir vom Prüfstand herunter auf die Straße, sind wir das, was wir eben sind: ganz normale Dreckschleudern.
Titelbild: The Wolf Law Library / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Roger W / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Volkswagen AG / Media Services
Beitrag: Dr. Joachim Landkammer
Umsetzung: Florian Gehm und Sebastian Paul