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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an der Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidet er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Sportintensiver ist keine Zeit als jene Monate, die wir gerade erleben, die alle vier Jahre Fußballeuropameisterschaft und Olympische Sommerspiele in die Nähe weniger Wochen rückt. Diesmal verbindet eine bedrückende Stimmung beide Ereignisse: In Frankreich ließen vorausgehende Terroranschläge das Turnier mit intensiver Angst beginnen. Den Anfang der Spiele von Rio de Janeiro dagegen verdunkelte eine tiefe Krise in der Politik und Wirtschaft des Gastgeberlandes. Hinzu kam der Staatsdoping-Verdacht gegenüber der gesamten russischen Mannschaft. Die Vorfreude blieb weit hinter den Erinnerungen an die vergangenen Sportereignisse zurück, bis sich – auch das in beiden Fällen – die Gegenwart zu einer nicht mehr erwarteten Euphorie verdichtete.
Mehr als die sportlichen Leistungen war es der Kontrast zum sorgenbeladenen Alltag dieses Jahres, der den Umschwung auslöste. Die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele im Maracanã-Stadion blieb zwar hinter dem Glanz der vergangenen Spektakel von Peking und London zurück. Sie schaffte es jedoch, dank der gefühlvollen Anlehnung an die Geschichte Brasiliens unter den Gastgebern den Stolz auf ihre Kultur in einem Moment schmerzender Selbstzweifel wieder aufflackern zu lassen. Damit harmonierte der begeisterte Empfang der Flüchtlinge am Ende des Einmarsches der Nationen, in einer Zeit, in der Vertreibung und Migration allgegenwärtig scheinen.
Auch bei der EM gab es diese kleinen Auszeiten von der kollektiven Depression: die überraschenden Erfolge der „kleinen“, weltpolitisch kaum existierenden Nationen. Eine besondere Faszination löste der Auftritt der portugiesischen Mannschaft aus, die sich von Spiel zu Spiel steigerte und selbst im Endspiel nach dem Ausscheiden ihres Superstars Cristiano Ronaldo triumphierte. Das sind große Momente, die nur der Sport bietet.
Aber wie können sportliche Großereignisse zum Kontrastprogramm einer grauen Umwelt werden, wenn sie doch ein Teil von ihr sind? Gilt nicht die nüchterne Einsicht, Politik und Wirtschaft hätten sich den Sport restlos unterworfen? Klar, die gut gemeinten Sinnsprüche aus der Sporttradition klingen in einer Zeit komplett vermarkteter Medienereignisse naiv. Mindestens genauso oberflächlich wirkt aber auch das ständig wiederkehrende Intellektuellen-Vorurteil von der angeblich nahtlosen Politisierung des Sports.
Während der antiken Jahrhunderte waren alle Kriegshandlungen für die Tage der sportlichen Großereignisse ausgesetzt. So entstanden Inseln innerhalb des politischen Alltags, deren Abgrenzung durch die Konzentration der teilnehmenden Stadtstaaten auf jeweils einen Ort, Olympia oder Delphi zum Beispiel, weiter an Konturen gewann. Die Wettkämpfe waren zusätzlich selbst ein ausgegrenztes Ereignis, weil sie je einem Gott geweiht waren und nahe seinem Heiligtum stattfanden.
Auch die heutigen Sportereignisse bieten sakrale Momente in einer säkularen Welt – in einem viel konkreteren Sinn, als ihn ihre Begründer sich erträumt haben mögen und die heutigen Organisatoren ahnen. Sie sind Auszeiten, die im Alltag unvorstellbare Gesten aufrufen und diese einfach geschehen lassen: So verweigerte ein ägyptischer Judoka seinem israelischen Gegner am Ende des Duells in Rio den unter Athleten üblichen Handschlag und löste damit Protest des Publikums aus – obwohl die Mehrheit der Brasilianer beim politischen Konflikt des Mittleren Ostens auf islamischer Seite steht. Hier spürte man die Kraft des Publikums.
Konflikte des politischen Alltags können aber auch immer wieder in großen Momenten des Sports von den Aktiven selbst stillgelegt werden. Noch heute erinnern sich viele Zuschauer an das Viertelfinale zwischen der englischen und argentinischen Fußballnationalmannschaft, welches bei der WM 1986 noch unter dem Eindruck des Krieges um die Falklandinseln stattfand. Argentinien unterlag, auf dem Platz gab es trotzdem nur Sieger, denn diese Art der Annäherung der beiden Nationen war so nur unter den Vorzeichen des Sports möglich, lange bevor sie auf diplomatischer Ebene erfolgte.
Schon die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit wurden 1896, in einer Epoche des aufgeheizten Hochnationalismus, von wechselseitiger Achtung und Freundschaften geprägt. Ganz so international, wie der Erfinder und Begründer, Baron de Coubertin, gehofft hatte, wurden die modernen Olympischen Spiele und auch die seit 1924 aus ihnen hervorgegangenen Fußballwettkämpfe nie. Aber sie bieten eine internationale Bühne für nationale Unterschiede. Wesentlich dabei ist: Diese Unterschiede werden nicht als Anlass zur Abgrenzung und Hierarchie missverstanden. Weil sportliche Wettkämpfe an Voraussetzungen der Gleichheit gebunden sind. Sie haben die Kraft, Varianten von Öffentlichkeit in der Aufklärungstradition zu sein, die uns die Gelegenheit bieten, individuelle Interessen zu vergessen – zugunsten von Impulsen der Gleichheit in einer Welt der Vielfalt.
Natürlich sind jene großen Momente auch bei Olympischen Spielen und Fußballturnieren nicht die Regel, sondern nur eine Möglichkeit. Entsteht ein solcher Moment, dann vergisst man ihn nicht mehr so schnell: Dazu gehört zum Beispiel die sprachlose Geste der Freundschaft zwischen dem deutschen Weitsprungfavoriten Luz Long und dem schwarzen Überraschungssieger Jessie Owens auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions 1936. Oder die Gesichtszüge Muhammad Alis, gerade weil sie von Anstrengung und Krankheit gezeichnet waren, als er die Fackel mit dem olympischen Feuer bei der Eröffnung der Spiele von Atlanta 1996 in die zitternde Hand nahm. Ein anderer großer Moment der Glückseligkeit lag im Trost der deutschen Nationalspieler für die brasilianischen Gegner nach dem 1:7-Sieg bei der WM 2014.
Niemand will bestreiten, dass den großen Augenblicken im Sport persönliche Akte des Betrugs gegenüberstehen: systematische Dopingmanipulation oder nationale propagandistische Ausschlachtung von Siegen und Medaillen oder die radikale Vermarktung der Spiele als globaler Bildschirm der Werbung. Die russische Regierung hat nach den Winterspielen von Sotschi ihren Ertrag unter all diesen Perspektiven maximiert. Das ist kein Geheimnis.
Und in zwei Jahren erwartet uns auch noch eine Fußballweltmeisterschaft in Russland. Ein Großereignis, das unter der Regie des machtbesessenen Hobbysportlers Wladimir Putin stattfindet. Eines Staatspräsidenten, der den mit Schande aus seinem Amt entfernten Fifa-Ex-Präsidenten Sepp Blatter für die Vergabe dieses Ereignisses für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat. Natürlich liegt die Reaktion nahe, diesen Veranstaltungen unser Interesse zu entziehen. Das ist die einfachste Reaktion. Aber sollte man diese dunklen Voraussetzungen nicht eher als einen Schlusspunkt der Perfektionierung des Weltsports ansehen?
Denn selbst in den Bildern von Sotschi war zu erleben, dass sich sportliche Großereignisse nicht als Propagandabühne eignen, denn sie sind stets an den Preis der Machtbegrenzungen gebunden. Selbst Polizei und Geheimdienste in Russland können es sich unter Beobachtung nicht leisten, einen Spieler kaltzustellen, der während des Turniers vor den internationalen Medien die Unterdrückung von Dissidenten in der Gastgebernation bloßstellt. Die afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos protestierten bei der Siegerehrung der Olympischen Spiele von 1968 in Mexiko-Stadt mit der Black-Power-Faust gegen den Rassismus ihres eigenen Landes. Sie müssen gewusst haben, wie viele Feinde sie sich machten. Heute erinnert eine Skulptur auf dem Campus ihres ehemaligen College an jene erhabenen Sekunden politischer Entschlossenheit – beide stehen auch am Ende ihres erfolgreichen und bewunderten Lebensweges als akademische Lehrer und Menschenrechtsaktivisten da.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Fußballspieler die russische Regierung bereuen lässt, die WM 2018 ins Land geholt zu haben. Je dunkler der Alltag wird, desto heller leuchten die Auszeiten der Utopie.
Der Artikel ist am 22.08.2016 auf „ZEIT ONLINE“ unter dem Titel „Was unvergesslich bleibt“ erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Erik van Leeuwen / Attribution: Erik van Leeuwen (Wikipedia)
| Unbekannter Fotograf / Reproduktion in "Die Olympischen Spiele, 1936" S. 27 (CC0 Public Domain)
| BENALZIRAC / youtube.com (CC BY 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm