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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Es reicht, einen Film aus der großen Hollywood-Zeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu sehen, um am Kontrast der vielen glattrasierten Männergesichter wahrzunehmen, dass wir heute in einer Zeit der Bärte leben. Nie wurde dies auf der Bühne der öffentlichen Medien greifbarer deutlich als beim Schlagerwettbewerb des Eurovision Song Contest 2014 mit dem in vielen Ländern so begeistert gefeierten Sieg von Conchita Wurst aus Österreich, einem homosexuellen Mann, der in seinen Auftritten als Drag Queen einen elegant geschnittenen schwarzen Bart trägt. Schon bei einem Radrennen am Pazifik, das die Gay Community von San Francisco am darauffolgenden Wochenende organisierte, erschien ein großer Teil der Zuschauer – ja selbst der Teilnehmer – in Frauenkleidern und mit sprießenden Bärten.
Ganz anders sieht Robert Brandom aus, einer der prominenten analytischen Philosophen unserer Gegenwart, der in Pittsburgh lehrt und seinen Bart offenbar ohne alles Trimmen bis auf Kniehöhe wachsen lässt. Hector hingegen, mein akademischer Kollege und Freund aus Bogotá, hält den etwa zehn Zentimeter langen Kinnbart in einer geometrisch markanten Form, welche mich – mit einem gewissen Verfremdungseffekt – an die Reliefs von assyrischen Herrschern, Generälen und Priestern erinnert. Und stoppelige Dreitagebärte bedürfen ohnehin längst keiner Erklärung oder gar Entschuldigung mehr – im Gegenteil: zumal unter jüngeren Männern scheint viel eher Bartlosigkeit die Ausnahme für eine soziale Welt geworden zu sein, wo Gesichtshaare in unendlichen, nicht selten überraschenden Stilvarianten längst als der zu erwartende Normalfall gelten.
Wenn man erst einmal auf ein neues Alltagsphänomen dieser Art aufmerksam geworden ist, stellt sich fast unvermeidlich ein Impuls des Interpretierens ein, dessen Ergebnisse dann im besten (oder schlimmsten) Fall geistreich geraten – also höchstens höfliches Lächeln auslösen, gleich wieder vergessen werden und stets aufs Neue die sich abzeichnende Chance verspielen, vielleicht ja wirklich einem vorbewussten Kraftstrom in der Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Ernsthaft in diese Richtung zu fragen, erweist sich – mit wissenschaftlicher Systematik wie in inspirierten Konversationen – als erstaunlich schwierig. Denn die neuen Bartträger (zum Beispiel) verbinden ja nicht wirklich, wie oft unterstellt wird, eine konturierte Ausdrucksabsicht mit ihrer Selbststilisierung. Das wäre schon allein deswegen unmöglich, weil die Gesellschaften solchen Gesten – anders als man noch vor knapp einem halben Jahrhundert annahm in der großen Zeit der sogenannten „Semiotik“ – keine spezifischen Bedeutungen oder gar einen festen Ort innerhalb ideologischer Systeme zuweisen.
Nicht einmal eine herausragende, charismatische Gestalt, welche die Zeitgenossen nachahmen wollen, lässt sich Im Fall des gegenwärtigen Barttrends identifizieren. Formen auf dieser Ebene sind einfach Teil von übergreifenden Ordnungen und Orientierungen, welche Individuen zur Verkörperung übernehmen und in denen sich für eine Zeit ihr Alltag vollzieht – bis er ohne offensichtlichen Grund in eine andere Struktur übergeht. Und allein hier – in Momenten der Veränderung und mit der Frage, wovon sie jeweils ausgelöst werden – kann eine Reflexion einsetzen, welche über die bloße Existenz des Phänomens hinauskommt.
Doch selbst Blicke aus der Perspektive der Kulturgeschichte oder der biologischen Anthropologie helfen zunächst nicht weiter, sondern wecken den Eindruck, dass die Formen des Bartwuchses und seine sozialen Funktionen ebenso unendlich wie beliebig variieren. Gewiss, Bärte setzen bestimmte männliche Hormonkonfigurationen voraus, die in einigen genetischen Traditionen des asiatischen und des amerikanischen Kontinents nicht gegeben sind. Doch die These des vollbärtigen Charles Darwin, dass sie notwendig als positiver Faktor in der sexuellen Selektion wirken, lässt sich – zumal hinsichtlich unserer globalen Gegenwart – keinesfalls aufrechterhalten. Nicht alle Frauen stehen auf Männer mit Bart. Auch die natürlich zutreffende Assoziation von Ganzkörperbehaarung mit einer evolutionären Frühphase des Homo sapiens führt soziologisch nicht weiter, da Bärte ja später in zahlreichen historischen Kontexten gerade als Markierung von Distinktion und gepflegter Künstlichkeit galten statt Sehnsucht nach Ursprünglichkeit zu aktivieren.
Wirklich faszinierend, weil widersprüchlich, wirkt die Vielfalt der Bartphänomene aber vor allem im historischen Kontext. Während für das antike Griechenland männliche Würde und Körperpräsenz fest mit einer weitgehend standardisierten Form der Gesichtsbehaarung verbunden war (im spartanischen Recht war ihre Beseitigung eine der härtesten Strafen) und Rasieren als Akt der Trauer aufgefasst wurde, waren in Rom glatte Männergesichter von der Republik bis zur Kaiserzeit des 2. Jahrhunderts die Regel, was sprießende Bärte zu einem Ausdruck der Trauer machte (wir wissen, dass der spätere Augustus so auf den Tod Caesars reagierte).
Während im präreformatorischen Christentum wohl schon vor der spätmittelalterlichen Emergenz des Zölibats und dann in der katholischen Konfession Bartlosigkeit (zusammen mit der Tonsur) zum – allerdings nur selten formal durchgesetzten – Aussehen der Priester gehörte (seit dem 17. Jahrhundert hat kein Papst mehr einen Bart getragen), sind Würdenträger der Ostkirche ohne Vollbärte nicht vorstellbar und empfehlen den Bartwuchs auch ihren männlichen Gläubigen. Während schließlich in den bürgerlich-westlichen Kulturen des frühen 19. Jahrhunderts Bartlosigkeit dominierte, gehörten Vollbärte seit den 1860er-Jahren wieder zum Körperbild der Monarchen, Millionäre und Künstler, um dann nach dem Ersten Weltkrieg von Schnurr- und Schnauzbärten abgelöst zu werden. Und zu dieser Genealogie ohne Regelmäßigkeiten gehört auch unsere bärtige Gegenwart.
Doch welche kulturellen und gesellschaftlichen Verschiebungen zeigen sich in dieser Bartobsession der vor allem jungen Männer im 21. Jahrhundert? Dass uns weder der anthropologische noch der historische Blick spezifische Bedeutungen oder Funktionen erschließt, ist deutlich geworden. Wir müssen uns also auf spezifische Konstellationen in der globalen Gegenwart und ihre Veränderungen konzentrieren, um zu einer plausiblen – oder wenigstens provokanten – These zu kommen. Ich möchte dabei mit einer Beschreibung dieser Gegenwart als „Universum von Kontingenz“ einsetzen. Wenn es zu den zentralen Ansprüchen der aus den bürgerlichen Revolutionen hervorgegangenen neuen politischen Ordnungen gehörte, ihren Bürgern in der Privatsphäre einen neuen Grad von Freiheit in der Gestaltung ihres privaten Lebens zu bieten (darauf beziehe ich mich mit dem Begriff „Kontingenz“), so schien diese Freiheit als ein Feld der Kontingenz bis in das späte 20. Jahrhundert von Bereichen des „Notwendigen“ und des „Unmöglichen“ umgeben.
Bestimmte Lebensformen waren von der Wahlfreiheit der Individuen ausgenommen („Notwendigkeit“): Wer zum Beispiel mit männlichen Genitalien geboren war, konnte sich kein Leben als Frau erhoffen. Andererseits gab es Vorstellungen von Lebensformen, deren Verwirklichung durch Menschen ausgeschlossen schien („Unmöglichkeit“): Man konnte zwar von Allgegenwart, Allwissenheit oder ewigem Leben träumen, musste aber alle Spekulationen über die Wirklichkeit solcher Zustände den Theologen überlassen. Heute nun zeichnet sich – nicht zuletzt aufgrund der Entfaltung elektronischer Technologie – eine fortschreitende Auflösung der Notwendigkeits- und Unmöglichkeitspole in unserem Leben ab. Geschlechtsumwandlung oder unbegrenztes körperliches Leben gelten nicht mehr eindeutig als Illusionen.
Dem so in einem Universum von Kontingenz erlebte Freiheitsgewinn steht auf der Gegenseite eine Überforderung durch Überkomplexität von Wahlmöglichkeiten gegenüber und ein zum Stress ausartender Leistungsdruck, sich als ein von allen Mitmenschen verschiedenes Individuum zu erweisen, als ein Mensch, der seine Freiheit aktiv und sogar kreativ zu nutzen weiß. Was nun körperliche Selbstpräsentation als Medium der Individualisierung angeht, so gibt jene Traditionslinie, an die unsere Gegenwartsmode anschließt, Männern ein unvergleichlich engeres Spektrum von Variationen an die Hand als Frauen. Sollte also die Bartobsession vor allem – statt als Zeichen der Männlichkeit – als Gestus und Emblem männlicher Individualisierung fungieren? Sie würde sich in dieser Funktion mit dem längst zur Institution gewordenen Trend des (vor wenigen Jahrzehnten noch als skandalös geltenden) Tätowierens treffen, hat aber den Variations-steigernden Vorteil, viel leichter löschbar und sogar umkehrbar zu sein.
Unter dieser Hauptthese lassen sich wohl all die eingangs heraufbeschworenen Bartphänomene subsumieren, von den gängig-coolen Dreitagebärten über den babylonischen Bart meines Freundes Hector und den unendlichen Bart des Philosophen Brandom bis hin zum bärtigen Drag Queen-Image von Conchita Wurst, das in seiner Komplexität ja tatsächlich die neue Freiheit der Individualisierung auf einen zugleich bewundernswerten und kaum zu toppenden Höhepunkt getrieben hat. Doch als ein Universum der Kontingenz setzt uns die Welt der globalen Gegenwart nicht allein dem Stress der Individualisierung aus. Zugleich und in Reaktion auf ihn ist auch eine neue Sehnsucht nach Authentizität entstanden, das heißt eine Sehnsucht nach Dimensionen und Schichten unseres Daseins, die sich aller Wahlfreiheit und allen Gesten individueller Selbststilisierung entziehen. Und auch an diese Sehnsucht scheint die Bartobsession von heute anzuschließen. Denn zum einen wird Gesichtsbehaarung wohl nie ganz die Konnotation des ursprünglich Vorkulturellen verlieren, zum anderen können wir zumindest mit einem unendlich wachsenden Bart gerade den Verzicht auf Selbststilisierung – als Haltung der Authentizität – assoziieren. Wahrscheinlich liegt hier auch der Grund, warum lange Bärte schon immer als Emblem der Weisheit galten.
So unüberbietbar bärtig, wie sie ist, hätte unsere Gegenwart wohl nicht werden können, ohne auf ihre beiden stärksten Dynamiken als Universum von Kontingenz zurückzugehen: auf den Druck zu individueller Selbststilisierung und die Sehnsucht nach Authentizität.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm