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Sebastian Witte kommt gebürtig aus Berlin. Nach Studienaufenthalten in Halle (Saale) und Jena, wo er Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften studierte, ist er seit September 2017 im Masterstudiengang Politics, Administration & International Relations an der Zeppelin Universität eingeschrieben. Im Rahmen seines Masterstudiums, das ihm finanziell unter anderem durch das BehördenSpiegel Stipendium ermöglicht wird, beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen der Digitalisierung in Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Als wissenschaftliche Hilfskraft unterstützte er den Lehrstuhl für Verwaltungs- & Wirtschaftsinformatik bei einem Forschungsvorhaben zum Thema offene Geodaten. Neben dem Studium engagierte sich Sebastian bei der Liberalen Hochschulgruppe und dem Club of International Politics. Zudem brachte er sich als Mitglied des StudentCouncils sowie als Programmschaftssprecher in die Gestaltung des Masterstudiengangs PAIR mit ein. Aktuell verbringt Sebastian ein Auslandssemester an der Andrássy Universität Budapest.
Eine Nudelmaschine – drei Sterne, der Kinobesuch – ein Stern, die Pauschalreise nach Ägypten – fünf Sterne. Längst hat sich der digitale Bewertungsterror im Netz durchgesetzt. Doch auch Menschen werden mittlerweile mit kleinen Sternen ausgezeichnet, etwa vom chinesischen Staat. Ein Gang über eine rote Ampel sorgt für einen schlechteren Stellenwert in der Gesellschaft? Das klingt grausam – doch weit von den totalitären Zügen des digitalen Kapitalismus ist das Sozialkreditsystem gar nicht entfernt, kommentiert ZU-Professor Jan Söffner.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bereiste im Dezember 2018 anlässlich eines Staatsbesuchs die Volksrepublik China. Eine Station dieser Reise war dabei die Stadt Chengdu, in der er vor den Studierenden der Sichuan-Universität eine vielbeachtete Rede hielt. Mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung in China stellte Steinmeier Folgendes fest: „Was hier geschieht, verändert nicht nur China, es verändert die ganze Welt. China verändert die Welt, in der wir groß geworden sind – und das mit ungeheurer Geschwindigkeit!“
Diesen Wandel forciert die Kommunistische Partei insbesondere durch den Einsatz und die Förderung der Künstlichen Intelligenz (KI). Ein Anwendungsbeispiel für die KI – das aktuell weltweit für viel Aufsehen sorgt – stellt das Sozialkreditsystem dar, das nach den Vorstellungen der chinesischen Regierung ab 2020 für alle Bürger und Unternehmen beziehungsweise Organisationen verpflichtend eingeführt werden soll. Das Sozialkreditsystem ist ein gesellschaftliches Überwachungs- und Steuerungssystem, das auf Big Data und die Möglichkeiten der KI zurückgreift. Die Datengrundlage des Systems stellen online und offline erhobene Daten dar. Nach den Vorstellungen der chinesischen Regierung sollen sowohl staatliche als auch privatwirtschaftliche Daten genutzt und zusammengeführt werden.
Die Funktionsweise des Systems ist vergleichsweise simpel erklärt: Erwünschte Verhaltensweisen, wie die Pflege der eigenen Eltern, werden mit Punkten belohnt, während unerwünschtes Verhalten, wie das Überqueren einer roten Ampel, Punktabzug gibt. Menschen mit einem niedrigen Scorewert müssen Sanktionen hinnehmen und können etwa von der Nutzung von Hochgeschwindigkeitszügen ausgeschlossen werden. Ein guter Punktestand dagegen ermöglicht Vorzüge wie eine vergünstigte Kreditaufnahme oder eine schnellere Bearbeitung von Visa-Anträgen.
Doch welche Ziele verfolgt die chinesische Regierung mit der Implementierung des Systems? Nach Mareike Ohlberg, Shazeda Ahmed und Bertram Lang können drei Zielstellungen genannt werden: erstens ein intragesellschaftlicher Wandel hin zu einer „Kultur der Integrität“ in einer – nach sozialistischem Ideal formierten – „harmonischeren Gesellschaft“; zweitens wirtschaftliche Ziele wie ein verstärktes Wirtschaftswachstum oder eine Reduzierung der Umweltbelastung; drittens eine verbesserte Wirkung und Durchsetzung der politischen Vorstellungen der Kommunistischen Partei.
Insbesondere die Schaffung einer „Kultur der Integrität“ bedarf einer kurzen Erläuterung: In China existiert aufgrund von Korruption und bewussten Verbrauchertäuschungen kein reziprokes Vertrauen der Bürger. Dies führt dazu, dass Transaktionen unterbleiben, wodurch wiederum volkswirtschaftliche Einbußen entstehen. Das Sozialkreditsystem soll hierfür eine Abhilfe schaffen, indem es die Vertrauenswürdigkeit eines Menschen anhand des im Sozialkreditsystem gespeicherten Punktestands bemisst. Wem dieses Gebären bekannt vorkommt: Die Entwickler des Sozialkreditsystems haben die Idee von Bewertungssystemen wie der deutschen SCHUFA abgeleitet.
In einer globalisierten Welt werden die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Überwachungs- und Steuerungssystems selbstverständlich auch in Europa und in den anderen Teilen der Welt spürbar sein. Transnationale Konzerne, die auf dem chinesischen Markt tätig sind, könnten durch das Sozialkreditsystem ihrer verbliebenen Handlungsautonomie beraubt werden. Sanktionen für vermeintliche unternehmerische Verfehlungen könnten auch konkrete Auswirkungen auf die Unternehmenspolitik außerhalb von China haben. Es bleibt abschließend festzuhalten, dass mit einer Implementierung des Sozialkreditsystems nicht nur für die Volksrepublik China, sondern auch für andere Staaten massive Änderungen in der Art der privaten Lebensgestaltung und des Wirtschaftens spürbar werden.
Das Sozialkreditsystem kann zwar das für wirtschaftliches Handeln benötigte Vertrauen datenbasiert herstellen und theoretisch dazu beitragen, dass externe Kosten mit in die betriebswirtschaftlichen Überlegungen von Unternehmen einbezogen werden. Für Menschen, die bislang kein Zugang zu (geliehenem) Kapital haben, kann durch das Sozialkreditsystem Liquidität hergestellt werden. Andererseits werden die Bürger Chinas durch das Sozialkreditsystem und die implizite Überwachung ihrer verbliebenen Rest-Privatsphäre beraubt. Unbekannte, intransparente Algorithmen und fragwürdige Datenquellen würden die Individualität des Menschen auf einen Zahlenwert reduzieren. Mit entsprechend positiven Folgen für diejenigen, die sich im Sinne der Vorgaben verhalten und mit drastischen Einschränkungen für diejenigen, die sich nicht an diese halten.
Das chinesische Sozialkreditsystem lädt vortrefflich zu Diskussionen darüber ein, wie wir im Zeitalter der Digitalisierung leben und wirtschaften wollen. Es ruft Fragen der digitalen Ethik auf den Plan und fordert Vertreter verschiedener Disziplinen dazu auf, Stellung zu beziehen. Der Verfasser dieser Zeilen hofft daher, zu einem weiteren Nachdenkprozess eingeladen zu haben. Eine Implementierung dieses Systems in Europa erscheint heute noch als Dystopie – und doch hat ZU-Professor Jan Söffner recht, wenn er darauf hinweist, dass „[…] auch der Westen nicht weit entfernt ist von einer Zusammenführung der Daten aus sozialen Netzwerken und Internethandel. Eine solche latent kommunistische Aufhebung der Entfremdung von ökonomischem Besitz und sozialem Sein scheint mir weniger undenkbar als vielmehr der nächste logische Schritt des digitalen Kapitalismus zu sein.“
Titelbild:
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Bild im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Sebastian Witte
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm