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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Ein täglicher Blick auf die Titelseiten amerikanischer Zeitungen genügt, um wahrzunehmen, dass sich Präsident Joe Biden noch nicht in der Rolle des zentralen Medienprotagonisten etabliert hat. Natürlich taucht sein Name immer wieder in diversen Zusammenhängen auf, bei der Rückkehr der Vereinigten Staaten zum Weltklimaabkommen etwa, anlässlich der Ankündigung sozialpolitischer Programme mit erstaunlichen Finanzvolumina oder auch in Kommentaren zu den vorsichtigen Bemühungen des Weißen Hauses, den Rhythmus der Impfkampagne in verschiedenen Bundesstaaten aufrecht zu halten. Doch der Kontrast zwischen dieser eher freundlich laufenden Berichterstattung und jener Besessenheit, in die sich Blätter wie die „New York Times“ oder die „Washington Post“ mit ihrer Dauerkonzentration auf Donald Trumps politische Fehler und persönliche Skandale gesteigert hatten, fällt wahrhaft drastisch aus.
Nach der Intensität des herbstlichen Wahlkampfes, der aggressiven Herausforderung demokratischer Grundregeln durch den narzisstischen Verlierer und dem Schrecken des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar reagieren amerikanische Bürger aus der collegegebildeten Mittelschicht mehrheitlich erleichtert, ja sogar dankbar auf eine Gegenwart, die sie von angespannter Sorge um die politische Lage entlastet. Sie sind – vorerst zumindest – mit einem Präsidenten zufrieden, der die vielfältigen Aufgaben des Amtes kompetent und ohne den sichtbaren oder gar aufdringlichen Ehrgeiz erledigt, die Nation von sich reden zu machen. Ob dieser Eindruck, den europäische Beobachter zu gelegentlich euphorischem Lob auf Joe Biden überhöhen, auch in anderen Schichten der amerikanischen Gesellschaft vorherrscht und als Beginn einer neuen Einhelligkeit, ja vielleicht sogar Einheit gedeutet werden kann, kann man angesichts der Ausdehnung des Landes mit seinen über die vergangenen Jahre verhärteten Kommunikationsblockaden kaum einschätzen.
Während aber die Zurückhaltung des neuen Präsidenten durchaus die erfolgreiche Wahlkampfstrategie der demokratischen Partei fortsetzt, eher auf Ablehnung von Antagonisten zu setzen als auf breiten Enthusiasmus für den eigenen Kandidaten, registrieren die meisten von uns Amerikanern mit – angenehmer oder enttäuschter – Überraschung die Tatsache, dass seit Januar dieses Jahres nun auch die Gestalt von Donald Trump auf eine untergeordnete Ebene des Nachrichtenflusses gerückt ist. Abgesehen von eher akademischen Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung seines Ausschlusses von den sozialen Medien, die er einst so effizient nutzte, stößt man kaum mehr auf den Namen und schon gar nicht auf aktuelle Bilder von Joe Bidens Vorgänger.
Diese Absenz erleben seine Gegner vorerst eher mit einem bangen Gefühl von Unheimlichkeit als mit vorsichtigem Vertrauen auf einen definitiven Sieg. Ob der Gang der Politik Trump abgelegt hat oder ihm eine triumphale Rückkehr in Aussicht stellt, scheint sich nicht ausmachen zu lassen.
Doch was hat die beinahe plötzlich eingetretene Beruhigung – zu der dank Trumps massiven Impfstoffkäufen auch das einsetzende Ende der Pandemie beiträgt – für die Zukunft der Vereinigten Staaten zu bedeuten? Die möglicherweise überparteiliche Fraktion des Optimismus glaubt an den schönen Begriff einer fortschreitenden „Heilung“ der gespaltenen Gesellschaft -- wenn sie sich denn überhaupt die Mühe von Prognosen inmitten des noch anhaltenden Klimas von Entspannung zumuten will. Wer analytische Prägnanz statt Hoffnung braucht, muss die Arbeit der beiden Parteien verfolgen, wo – momentan weit von öffentlicher Resonanz entfernt – entscheidende Weichenstellungen für die Parlamentswahlen in gut eineinhalb Jahren vollzogen werden.
Seit der vor wenigen Wochen gelungenen Ausbootung der ideologisch konservativen Fraktionschefin Liz Cheney, die sich Trumps Diskurs von der „gestohlenen Wahl“ widersetzte, hat die republikanische Partei das über Monate drohende Szenario einer Spaltung überwunden. Das heißt aber auch: Sie hat sich zur Einheitspartei jener ideologischen Energie gewandelt, die weiter von Trumps Slogan „Make America Great Again“ ausgeht – und deshalb nur noch wenig mit den bürgerlich-kapitalistischen Werten zu tun hat, wie sie die Präsidenten Bush oder die Außenminister George P. Shultz und Condoleezza Rice verkörperten. Die traditionelle amerikanische Oberschicht verfügt über keine formale Struktur politischer Repräsentation mehr.
Die Reichen der neuen Technologie- und Wirtschaftsbranchen hingegen – zum Beispiel die Multimilliardäre von Silicon Valley – unterstützen die demokratische Partei. Da Beobachter, die der in Europa vorherrschenden linksgrünen Stimmung angehören, dieses Faktum nun schon seit einem guten Jahrzehnt zu ignorieren versuchen und darüber hinaus Bidens Sozialinitiativen mit einem Aufschließen zu ethischer Wahrheit verwechseln, gelangen sie nicht zu der Frage, ob die Allianz zwischen den jungen Reichen und der Regierung solide bleiben wird. Dass Bernie Sanders, der seine sozialdemokratische Position hartnäckig (oder naiv) „sozialistisch“ nennt, Bidens innenpolitischer Agenda seinen weit sichtbaren Segen gegeben hat, mag den Demokraten im Herbst 2022 weitere Stimmen bei Wählern unter dreißig bringen, muss aber zugleich Skepsis bei von Trump entfremdeten Steuerzahlern der höheren Einkommensklassen wecken. Nicht, weil sie Maßnahmen staatlicher Umverteilung prinzipiell ablehnen, sondern weil sie – vielleicht zurecht – daran zweifeln, dass die so stark dezentralisierten Vereinigten Staaten über jene Institutionen verfügen, welche allein die Umsetzung ambitionierter Pläne sichern können.
Innerhalb seiner Partei folgt Präsident Biden offenbar der anschwellenden Kritik im Rückblick auf den langsamen Rhythmus der Sozialpolitik von Barack Obama. Mit diesem ungeduldigen Blick verliert er allerdings das Drittel der – zum Großteil finanziell unterprivilegierten – Bürger aus den Augen, bei denen Trumps inhaltlich vages Motiv von der zu erneuernden Größe Amerikas stärkere Resonanz fand als die Verteidigung von Grundstrukturen der Demokratie. Darauf zu bestehen, dass Bidens Programm doch gerade die objektiven Interessen solcher Gruppen befördere, unterschätzt die Kraft ihres tiefsitzenden Widerstands gegenüber allen Maßnahmen, die sie als Eingriffe in ihr privates Leben auffassen.
Ob dieses für die Zukunft ausschlaggebende Segment der amerikanischen Bevölkerung einer jetzt auf Trump festgelegten Partei die Treue halten wird, wenn der ehemalige Präsident als Kandidat nicht mehr bereitsteht, vermag in der ruhigen Gegenwart niemand vorauszusagen. Insofern bleibt die politische Zukunft Amerikas offen. Fest steht nach weit mehr als hundert Tagen im Weißen Haus allein, dass es Biden versäumt hat, die ehemaligen Trump-Wähler als Komponente der nationalen Wirklichkeit – und als Problem für die demokratische Partei -- auch nur ins Visier zu nehmen. Zum Status eines wahrhaft großen Präsidenten wird er es deshalb bei aller europäischen Beistimmung – langfristig gesehen – wohl nicht bringen.
Titelbild:
| Luke Michael / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bild im Text:
| Gage Skidmore / Flickr.com (CC BY-SA 2.0) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm