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Seit Präsident Franklin D. Roosevelts „New Deal“, so die von heimischen wie ausländischen Medien bei dieser Gelegenheit immer wieder erzählte Geschichte, müssen sich amerikanische Präsidenten nach ihren ersten hundert Tagen im Amt mit dessen außerordentlicher Bilanz vergleichen lassen. Namentlich die Zeichnung von 76 Gesetzen sowie die Verfügung von 99 Präsidialerlassen sind seither von keinem der Nachfolger erreicht worden. Präsident Joe Biden schneidet mit 11 Gesetzen leicht unterdurchschnittlich und mit 42 Präsidialerlassen klar überdurchschnittlich ab.
Diese technische Statistik sagt allerdings kaum etwas aus. Die Gesetzgebung hängt im präsidialen Regierungssystem der USA, anders als der Name erwarten lässt, in erster Linie vom Kongress ab. Präsidenten bringen formal keine Gesetze ein (wie es Regierungen in parlamentarischen Regierungssystemen regelmäßig tun). Präsidenten können nicht auf eine stehende Mehrheit im Parlament bauen (wie es Regierungen in parlamentarischen Regierungssystemen regelmäßig können). Und Präsidenten verfügen noch nicht einmal über ein absolutes, sondern nur über ein suspensives Veto (das mit einer Zweidrittelmehrheit in den Kammern des Kongresses seinerseits überstimmt werden kann). Daraus folgt, dass eine Statistik, die erfolgreich abgeschlossene Gesetzgebungsverfahren ausweist, für sich noch nichts über den Erfolg einer Präsidentschaft sagt. Wenn seine Partei über Mehrheiten in beiden Kammern verfügt, hat er es leichter. Wenn er sich nicht um seine Agenda kümmert und Gesetze passieren lässt, sagt die Zahl nur etwas über die gesetzgeberische Aktivität des Kongresses aus. Und wenn er es einfacher und schneller haben will, arbeitet er mit dem Instrument der Präsidialerlasse – die naturgemäß allerdings nicht für alle Materien in Frage kommen, die sonst der Gesetzgebung bedürfen.
Zu den bedeutenderen Leistungen der ersten hundert Tage von Präsident Biden gehören aus europäischer Sicht neben den Beschlüssen zur Unterstützung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft zur Bewältigung der Pandemiefolgen vor allem symbolische Akte. Da ist zum einen der kommunikative Umgang mit der Pandemie, namentlich der Impfkampagne. Er fällt ausländischen Beobachtern vor allem deshalb auf, weil sein Amtsvorgänger einen bisweilen erratischen Stil auch beim Thema Corona pflegte – vergessen sollte man aber nicht, dass die Impfkampagne schon Ende 2020 energischer als etwa in Deutschland startete, also zu einem Zeitpunkt, als Joe Biden noch nicht im Amt war.
Zum anderen muss man die Rückkehr ins Pariser Klimaschutzabkommen erwähnen. So erfreulich der Vorgang für das Ziel zu werten ist, Klimaschutz im Rahmen einer globalen Absprache der Staaten zu betreiben, so deutlich zeigt er aber eine wesentliche Schwäche des Abkommens. Als Durchbruch gefeiert, ist es doch tatsächlich ein kunstvolles Geflecht von Normsetzungen, Berichtspflichten und „naming-and-shaming“-Mechanismen, dessen Architektur sich im Wesentlichen dadurch erklärt, der damaligen amerikanischen Regierung unter Präsident Barack Obama die förmliche Unterschrift zu ermöglichen.
Denn seit dem gescheiterten Versuch Präsident Bill Clintons in den 1990er-Jahren, das Kyoto-Protokoll ratifizieren zu lassen, gibt es in den USA auf Bundesebene in Wahrheit keine belastbare parlamentarische Mehrheit für eine verlässliche Bindung an harte Ziele und Maßnahmen. Die Zeichnung von Präsident Biden bezieht sich wie diejenige von Präsident Obama nur auf einen relativ kleinen Ausschnitt des Gesamtwerkes – und die Fachliteratur streitet darüber, wie weit die daraus folgenden „Bindungen“ von substanzieller Natur sind. Der Ausstieg von Präsident Trump war insofern weniger dramatisch als gemeinhin wahrgenommen, der Wiedereinstieg von Präsident Biden weniger glorreich und mutig, als es sich die europäische Sicht wünscht.
Was ist also von den ersten hundert Tagen zu halten? Von ein paar kleinen Aussetzern abgesehen, die aber bei nüchterner Betrachtung nicht ins Gewicht fallen, ist Präsident Biden entsprechend der Erwartungen gestartet. Die amerikanischen Positionen in der Außenpolitik haben sich nur im Ton, nicht aber in der Sache verändert. Hier läuft spiegelbildlich ab, was die Präsidentschaft von Trump prägte. Ob Rüstungsausgaben, Migration in die USA oder Gas aus Russland: Die amerikanischen Interessen sind geblieben, was sie waren. Manche sind dankbar dafür, dass nun alle zu den filigranen diplomatischen Gepflogenheiten zurückkehren können. Andere ahnen, dass ein mitunter karikaturenhaftes Feindbild im Weißen Haus innenpolitisch einen unbezahlbaren Vorteil bringen konnte. In jedem Falle gilt: Der weltweite Ausnahmezustand der Pandemiepolitik ist noch nicht beendet. Auch nicht in den USA. Und diese Situation verzerrt erheblich politische Prozesse, namentlich die Agenda. Die ersten hundert Tage des Präsidenten Joe Biden ohne Ausnahmezustand bleiben abzuwarten – oder sind die vielleicht Kamala Harris vorbehalten?
Titelbild:
| Ferdinand Stöhr / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bild im Text:
| Joint Congressional Committee on Inaugural Ceremonies (Gemeinfrei) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Markus M. Müller
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm