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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Ob die Autorin Judith Butler, ohne deren Texte er keine einzige Prüfung bestreiten könne, dieselbe Person sei, „mit der wir vor gut zwei Jahrzehnten im Familienkreis öfter Baseballspiele der San Francisco Giants angeschaut haben“, fragte neulich mein jüngerer Sohn, der etwas verspätet ein Studium der Kommunikationswissenschaft an der Arizona State University zu Ende bringt. Die Antwort hieß Ja, und sie belegt, dass Butler zu jener Ebene seltener Berühmtheit aufgestiegen ist, wo wir voller Erstaunen – wie neulich eine Website mit Blick auf Stars der Unterhaltungsbranche schrieb – die Verkörperung zentraler Gegenwartsbegriffe in Personen erleben, denen man im Glücksfall tatsächlich begegnet ist oder wenigstens begegnen könnte. Und natürlich geht es hier um den Genderbegriff.
Unter Universitätsleuten pflegt solcher Status Neid und herablassende Kommentare auszulösen. Doch philosophische Protagonisten vom Rang eines Hans-Georg Gadamer oder Richard Rorty hatten mit ihrer Wertschätzung für Butler schon sehr früh deren Denken gegen kollegiale Einwürfe immunisiert (einmal ganz abgesehen von der Ehre, die ihr zuteilwurde, als Papst Benedikt XVI. ihren potenziellen Einfluss in einer offiziellen Schrift des Vatikans zurückwies).
Wie ist es zu diesem einzigartigen Fall einer Professorin gekommen, die als charismatische öffentliche Gestalt Kontroversen unserer Zeit verkörpert?
Judith Butler hat in zwei Büchern der frühen neunziger Jahre unter den schönen Titeln „Gender Trouble“ („Das Unbehagen der Geschlechter“) und „Bodies that Matter“ („Körper von Gewicht“) eine damals neue Konzeption von „Geschlecht“ (Gender) entwickelt, die mit solcher Intensität aufgenommen wurde, dass sie heute zum Alltagswissen einer kulturell und politisch ambitionierten Mittelschicht gehört. Wir verstehen Geschlechter als Rollen, die im gesellschaftlichen Umgang entstehen und sich laufend verändernd an immer neue Generationen weitergegeben werden; wir gehen davon aus, dass es eine offene Vielzahl von Geschlechtern gibt, die nicht an die eine biologische Unterscheidung zwischen Frauen und Männern gebunden sind; und wir bekunden gerne unsere Sympathie für individuelle Spiele und auch Dramen des Übergangs zwischen den Geschlechtern (zum Beispiel für die Auftritte von „Dragqueens“).
Angesichts von Butlers schlagendem Erfolg gerät leicht in Vergessenheit, dass ihre ersten Publikationen noch polemisch einen Feminismus herausfordern mussten, der auf das von Männern verschiedene „Wesen“ von Frauen konzentriert und nicht selten bemüht war, dort eine gleichsam natürliche Berufung zu allen möglichen Arten von „Tiefe“ zu entdecken. Ihre entscheidende Intuition lag in der Auffassung von Geschlechtern als einer Vielfalt von Formen der Performanz, wobei Performanz bedeutet: Die Geschlechter entstehen als Rollen erst durch ihre Aufführung. Es handelt sich buchstäblich um verkörperte und nie abgeschlossene Rollen, die wie Schauspielerrollen auf der Bühne von der Resonanz und dem Widerstand anderer Menschen und deren jeweiliger Rollen leben.
Philosophiegeschichtlich kompetent konstruierte Butler den argumentativen Bogen des eigenen Theorieentwurfs aus Elementen der Werke von Hegel („Verkörperung“), den sie in Heidelberg studiert und in Yale zum Thema ihrer Doktorarbeit gemacht hatte, John L. Austin („Rollen“), Michel Foucault („diskursiver Widerstand“) und Jacques Derrida („Aufhebung binärer Unterscheidungen“). Detailkritik an ihren Deutungen der zitierten Vorgänger blieb nie aus, hat aber Butlers akademischer Karriere und öffentlicher Wirkung ebenso wenig geschadet wie die manchmal verstiegene Abstraktheit ihrer Texte, der Kollegen 1998 – nicht ganz zu Unrecht – den ersten Preis in einem „Wettbewerb für schlechtes Schreiben“ verpassten. Trotzdem berief die prominente Universität Berkeley sie noch vor dem vierzigsten Lebensjahr auf einen Lehrstuhl, und von „Gender Trouble“ wurden über hunderttausend Exemplare abgesetzt.
Bei der Gemeinde von Butlers Lesern setzten sich offenbar ein Authentizitätseindruck und eine intellektuelle Kraft durch, die immer neue Anstöße in der Leidenschaft konkreter existenzieller Situationen finden. Ein Rabbiner ihrer Schule in Cleveland soll die vierzehnjährige Judith mit der Verpflichtung zur Teilnahme an Ethikkursen bestraft haben, weil sie sich Fragen nach den Gründen für den Ausschluss des großen Spinoza aus der Synagoge oder nach der Möglichkeit einer Herleitung des Nationalsozialismus aus dem deutschen Idealismus nicht verbieten ließ. Im gleichen Alter, erzählte sie bei einem Baseballspiel, sei ihr zum ersten Mal der damals übliche Begriff von „Geschlecht“ zum Problem geworden, weil der Sportlehrer sie „als Mädchen“ vom Training der American-Football-Mannschaft ausgeschlossen hatte. „Etwas anderes wäre es gewesen“, fügte Judith hinzu, „wenn er gesagt hätte, dass meine Muskeln nicht hinreichend entwickelt seien.“
Umgekehrt setzt Butlers philosophische Arbeit Anstöße aus dem gegenwärtigen Leben in Denkbewegungen um, die jenseits der Frontlinie zwischen akademischer Welt und politischen Debatten zünden. An vorsichtig-stabiler Halbdistanz, wie sie typisch für öffentliche Intellektuelle ist, liegt ihr so wenig wie an der strikten Vermeidung argumentativer Widersprüche.
Nicht nur Antagonisten in den akademischen Genderdebatten hat sie so mit den markanten Positionen – und den nicht selten schrillen Zwischentönen – ihrer Texte irritiert. Weil sie lautstark die palästinensische „Boykott/Kapitalentzug/Sanktions“-Initiative (BDS) gegen den Staat Israel unterstützt, provozierte die Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt an Butler empörten Protest beim Zentralrat der deutschen Juden. In einer schmallippigen Replik bestritt sie das Recht des Staates Israel, jüdische Interessen pauschal zu vertreten. Entgegen ihren Vorbehalten gegen binäre Unterscheidungen hielt Butler dabei am klassischen „Rechts/links“-Gegensatz, an der Identifikation der Linken als antiimperialistisch und mithin an ihrer grundlegenden Sympathie für die Hamas als linker Organisation fest. Politische Dogmatik hatte philosophische Skepsis zurückgedrängt.
Auch in der akademischen Welt dringt Butler beinahe eifrig in vermintes Gelände vor. 2018 gab sie als gewählte Vorsitzende des amerikanischen Verbands der Sprach- und Literaturlehrer eine bedingungslose Solidaritätserklärung für eine Kollegin aus New York ab, die unter der Anklage sexueller Belästigung eines Studenten stand. Die Vorwürfe wurden juristisch bestätigt, und Butler rang sich eine offizielle Entschuldigung ab.
Jüngst hat sie die an amerikanischen Universitäten derzeit fortschreitende Verwendung des Personalpronomens „they“ für ihre Person übernommen. Dabei geht es um eine Geste der Sympathie gegenüber verschiedenen Transbewegungen, die diesen grammatikalischen Plural kultivieren, während Butler als lesbische Frau wohl im Singular plausibler geblieben wäre, einmal davon abgesehen, dass sie Kollegen wie Schülern eine ziemlich sperrige Sprachregelung auferlegt und dass nach amerikanischer Rechtsprechung nun die Verwendung des weiblichen Pronomens „sie“ als Verletzung ihrer Persönlichkeit interpretiert werden kann.
Dass Butler keine Gelegenheit auslässt, um – schonungslos gegenüber sich selbst und anderen – Anstoß zu erregen, entspricht der Dynamik und Ernsthaftigkeit ihres Temperaments. Nicht nur der Öffentlichkeit gönnt sie als Protagonistin von Gewicht keine Ruhepausen, sie hat sich auch nie mit dem Erfolg ihrer jeweils letzten philosophischen Schriften begnügt. So nahm sie in kritischer Breitseite gegen die Selbstgerechtigkeit der Political Correctness 2005 mit dem Traktat „Giving an Account of Oneself“ die Entwicklung einer Ethik auf, die von der grundlegenden, auch körperlichen Verletzlichkeit des Individuums und von seiner Intransparenz gegenüber sich selbst ausgeht, statt auf die intellektuell und politisch bequeme Option einer Identifikation mit den unterdrückten Minderheiten zu setzen.
Der Versuch, philosophische Wege hin zu einer neuen Moral zu finden, macht selbst den Kampf mit Butlers Sprache zu einem lohnenden Unternehmen. Denn wenn Menschen sich am Ende immer selbst undurchschaubar bleiben, dann können sie nie ganz für das eigene Verhalten verantwortlich sein. Dafür müssen sie – noch vor allen wechselseitigen Verpflichtungen – auf Vergebung hoffen, so wie sie auch in ihrer grundlegenden physischen Verletzlichkeit auf wechselseitige Schonung angewiesen sind. Hier setzt eine Ethik bei elementaren Bedingungen der menschlichen Existenz an – statt wie sonst üblich beim Glauben an die Priorität bestimmter Werte.
Zuletzt hat Butler auf die wachsende Tendenz zu politischen Manifestationen unter freiem Himmel mit einer Analyse der Verschiebung zwischen privater und öffentlicher Sphäre reagiert und dabei kraftvolle Worte für die langfristige Besetzung urbaner Räume gefunden: „Erst wenn jene Bedürfnisse, die sonst privat bleiben, Tag und Nacht
öffentlich werden und die Aufmerksamkeit der Medien finden, gewinnen die
Ereignisse des Protests eine Hartnäckigkeit, die der Staat nicht mehr
ignorieren kann.“ Aus dieser Beobachtung erwächst die kühne – aber mir durchaus plausible – These, dass jede Manifestation implizit „das elementarste aller Rechte einfordert, nämlich das Recht, Rechte zu haben“.
Es ist unwahrscheinlich, aber doch nicht ganz undenkbar, dass die neueren philosophischen Schriften von Judith Butler eine öffentliche Wirkung erreichen, die an den Einfluss ihrer Auslegung des Geschlechtsbegriffs heranreicht. Unwahrscheinlich, weil es sich dabei um einen wirklichen Jahrhunderterfolg handelte; nicht undenkbar aber doch, weil jede Denkbewegung von Judith Butler nicht nur in der amerikanischen Öffentlichkeit bis heute ebenso laut beistimmende wie ablehnende Reaktionen anstößt. Die Geschlechterfrage scheint inzwischen an die Peripherie ihres Denkens gerückt zu sein – vielleicht deshalb, weil sie im Leben mit der Politologin Wendy Brown zu einer glücklichen Wirklichkeit und im Beruf zu einem soliden Konsens geführt hat. Doch zukünftige Ereignisse und politische Lagen werden Judith Butlers Philosophie ohne möglichen Endpunkt immer weitertreiben.
Diese Unruhe des Denkens muss ihr Sohn Isaac, Student an der Wesleyan University, Bandleader und selbsterklärter „mainstream heterosexual“, im Sinn gehabt haben, als er auf die Interviewfrage nach seinen Erinnerungen an das Aufwachsen mit einem lesbischen Elternpaar antwortete: „Kein Problem, dass es zwei Mütter waren. Aber mit zwei Professorinnen zu leben, das war anstrengend.“
Dieser Artikel ist am 16. Juni unter dem Titel „Ohne sie würden wir heute nicht über Gender reden: Wer ist eigentlich Judith Butler?“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
| Miquel Taverna / Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CC BY-SA 4.0) | Link
Bilder im Text:
| Jreberlein / Wikipedia in inglese (CC BY 2.5) | Collegamento
| Tim Mossholder / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm