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Dr. Angelica V. Marte ist ausgebildete systemische Beraterin, Wissenschaftlerin und Führungskräfteentwicklerin. Sie arbeitet seit 1996 mit internationalen Unternehmen und Universitäten als Expertin für die Themen „Global Leadership“, „Networks“ und „Diversity“ und als Executive Coach. Sie publizierte und forschte dazu unter anderem an der Universität Witten/Herdecke, der MIT Sloan School of Management und der Universität Zürich. Aktuell ist sie Unternehmerin sowie Gastwissenschaftlerin und Senior Lecturer am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an der Zeppelin Universität und an der Steinbeis-Hochschule Berlin. Sie engagiert sich als Beirätin an der Donau-Universität Krems (Department für Interaktive Medien), im Supervisory Board des Schweizer Beratungsunternehmens DOIT- Smart und seit 2013 als zertifzierte Lehrtrainerin für systemisches Coaching am Zentrum für systemische Forschung und Beratung (zfsb) in Heidelberg.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ist alles bereit für die auf 2021 verschobene Expo 2020. Wie alle touristischen Sehenswürdigkeiten erstrahlt auch Abu Dhabis Falkenhospital in neuem Glanz. Seine jährlich rund 20.000 Besucherinnen und Besucher tragen entscheidend zur Finanzierung der weltweit einzigartigen veterinärmedizinischen Einrichtung bei. Zwar müssen alle Behandlungen privat bezahlt werden, aber die hohen medizinischen Kosten wären selbst für wohlhabende Emiratis nur schwer finanzierbar. Die Chefärztin Dr. Margit Gabriele Müller erwartet sich nach der Wiederöffnung der täglichen „Falcon World Tour“ ein Ende des Pandemie-bedingten Notprogramms. Für diese Weltreise ins Reich der Falken erhielt das Tierspital bereits den renommierten Preis für verantwortungsvollen Tourismus (World´s Responsible Tourism Award). Seit mittlerweile 20 Jahren steht das Spital unter der Leitung von Dr. Müller, ursprünglich aus Deutschland, und genießt Weltruf – ein hervorragendes Beispiel für Leadership Excellence.
Wer zufällig vorbeifährt, könnte es für eine fantasievolle Namensgebung für ein Allgemeines Krankenhaus halten: Das Abu Dhabi Falken Hospital (ADFH). Angesichts seiner Dimensionen würde es einem kaum in den Sinn kommen, dass hier keine menschlichen Patienten behandelt werden. Das beginnt schon bei der fürstlichen Gestaltung der Einfahrt und der Größe des Parkplatzes. Und setzt sich bei den medizinischen Einrichtungen für Diagnose und Behandlung – aufgeteilt in spezialisierte Pavillons für unterschiedliche Erkrankungsformen – fort. Wie so vieles in den VAE liefert auch dieses Spital einen Superlativ: Es ist die weltweit größte Klinik für Falken.
Das allein ist zwar bemerkenswert, aber kein Grund darüber zu berichten. Doch es wären nicht die Emirate, wenn das Notwendige nicht mit dem Nützlichen verknüpft wäre. Das ADHF gehört zu den touristischen Highlights der meisten Reisen ins größte Emirat der VAE mit seiner gleichnamigen Hauptstadt Abu Dhabi. Wochentags zweimal täglich (um 10 und um 14 Uhr) bietet es seine „Falcon World Tour“ an. Mit opulentem arabischem Festmahl in einem luftigen Majlis – dem traditionellen Versammlungsort, der so konstruiert ist, dass er auch bei Temperaturen weit jenseits von 30 Grad noch angenehm ist. Wenn nicht gerade wegen eines Notfalls verhindert, begrüßt die Direktorin und Chefärztin Dr. Margit Gabriele Müller persönlich die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt.
Es ist eine Weltreise im mehrfachen Sinne: Sie führt in die internationale Welt der Falknerei, informiert über deren Geschichte in der arabischen Welt und die Maßnahmen im globalen Artenschutz. Sie bringt aber auch medizinische und zoologische Spezialisten rund um den Globus mit einem ebenso vielfältigen und multinationalen Publikum zusammen. Dadurch sollen nicht nur Einnahmen für Forschung und Schutzmaßnahmen lukriert, sondern auch die Ziele des Artenschutzes gefördert werden. Die Besucherinnen und Besucher sollen zu potenziellen Botschafterinnen und Botschaftern der bedrohten Falkenarten, Greifvögel und Eulen werden – besser noch: auch von allen anderen Wildtieren, die mit den Vögeln in ökologischen Abhängigkeiten leben. Den veralteten Begriff des „Raubvogels“ hört man hier nicht so gerne, weil er – wie das allgemeinere „Raubtiere“ – negative Assoziationen weckt.
Das passe so gar nicht zum Verständnis der Emiratis, die Falken auch heute noch eher als Familienmitglieder begreifen, betont Dr. Müller im Gespräch und bei so gut wie jeder Führung. Das sei der große Unterschied zu Europa und ihrem eigenen (deutschen) Herkunftsland:
„Der Falke hat hier einen anderen Stellenwert als zum Beispiel in Deutschland. Dort war die Falknerei im Mittelalter der Sport der Könige und Aristokratie. Im arabischen Raum hat die Falknerei einen völlig anderen Hintergrund: Noch vor 40, 50 Jahren waren die meisten Emiratis Beduinen, die in der Wüste lebten. Sie trainierten die Falken, um Fleisch für die Familie zu jagen. Dadurch hat der Falke das Überleben der Beduinen-Familien gesichert. Das bedeutete, dass der Falke nie als Sportgerät galt, sondern in die Familie integriert war. Falken erlangten den Stellenwert von Kindern. Sie lebten damals wie heute mit der Familie, sitzen im Wohnzimmer oder haben ihren Platz neben dem Bett im Schlafzimmer. Sogar im Auto genießen sie ihren eigenen Sitzplatz, genauso wie im Büro. Der Falke ist ein wirkliches Familienmitglied. Das ist der eigentliche Grund, warum es uns gibt. Im Abu Dhabi Falken Hospital kümmern wir uns nicht um „Vögel“ oder Falken, sondern um die Kinder der Beduinen.“
Für dieses kulturelle Verständnis wird die Falkendoktorin hier ebenso verehrt wie für ihre medizinische Fachkompetenz, aber auch ihre Führungskompetenz. Es passt perfekt ins Selbstbild der Emirate, die gar nicht so ferne Vergangenheit eines Lebens in der Wüste mit dem Futurismus des technologischen Fortschritts zu versöhnen. In diesem Jahr feiern die sieben Emirate ihr 50-jähriges Bestehen: das silberne Jubiläum des staatlichen Bündnisses als VAE im Jahr 1971. Covid-19 hat auch hier die geplanten Feiern gehörig durcheinandergebracht. Die Pandemie führte zur Verschiebung der Expo 2020 um ein Jahr. Nunmehr soll sie vom 1. Oktober 2021 bis 31. März 2022 in Dubai stattfinden. Ob es wie geplant die „größte Weltausstellung der Geschichte“ wird, hängt nicht allein von den Organisatoren ab.
Ihr offizielles Motto „Gedanken verbinden, die Zukunft gestalten“ setzt ganz auf den Zeitgeist internationaler Zusammenarbeit im Kampf gegen den Klimanotstand. Nachhaltigkeit ist das Schlüsselwort der Expo. Es steht im Spannungsverhältnis zum allgegenwärtigen Ressourcenverbrauch und megalomanischen Bauprojekten. Und doch scheint es mehr als ein Lippenbekenntnis oder bloßes „Greenwashing“. Wie beim Falkenspital gilt wissenschaftliche Evidenz in den Emiraten als Grundlage des staatlichen Handelns. Darauf beruht die Erkenntnis, wie sehr die Klimakrise die Existenz der VAE bedroht. Das Ansteigen des Meeresspiegels, weitere Temperatursteigerungen, die Versalzung der Küsten durch die Trinkwassergewinnung und andere Faktoren könnten allen Fortschritt wieder zunichte und Länder wie die Emirate praktisch unbewohnbar machen.
Beim Massentourismus überlässt das wesentlich größere und finanzkräftigere Abu Dhabi gerne dem bekannteren Nachbarn Dubai den Vortritt. Doch beim Brechen anderer Rekorde – um die prachtvollste Moschee, den prunkvollsten Palast, das gewagteste Bauwerk oder das beste Museum – herrschte bisher ein nachbarschaftlicher Wettstreit. Derzeit scheint es, als könnte das Rennen um den besseren „Green Deal“ Fahrt aufnehmen.
Bei diesem Vergleichskampf hat Abu Dhabi derzeit deutlich die Nase vorne. Das liegt zum einen an der Entwicklung emissionssparender Technologien wie der derzeit in Bau befindlichen, größten Entsalzungsanlage der Welt. Sie soll mit 900.000 Kubikmetern pro Tag ziemlich genau das 18.000-fache der ersten derartigen Anlage an der Uferstraße Abu Dhabis leisten. Zum anderen an Umweltprojekten wie der Wüstenbegrünung durch extensive Baumpflanzungen oder den Artenschutzprojekten wie jenem von Sir Bani Yas – der „Insel der weißen Antilope“ – oder eben den Arterhaltungsprogrammen des Falkenspitals.
Der Name Abu Dhabi bedeutet nicht zufällig „Vater der Gazelle“. Auf einem Jagdausflug im 18. Jahrhundert führte – der Legende zufolge – eine Gazelle die Beduinen aus der Liwa-Oase zu einer Süßwasserquelle. Dort gründeten sie ein Fischerdorf. Es war der Beginn einer neuen Zeit. Ihre heutigen Symbole sind mehrheitlich Statements im globalen Wettbewerb um Einfluss und Prestige. Sightseeing in Abu Dhabi heißt eine Aufeinanderfolge von Momenten des Staunens: Ob es sich um die „Große Moschee“ handelt, die nach Sheikh Zayed, dem Gründungsvater der VAE, benannt wurde; um die glitzernden Fassaden der Etihad-Türme, die ebenso wie die staatliche Fluglinie heißen (das arabische Wort Etihad steht für Gemeinsamkeit); oder der „Palast der Nation“, Qasr Al Watan, ein Bauwerk wie gemacht, um sich jeder sprachlichen Beschreibung durch ultimative Opulenz zu entziehen.
Touristinnen und Touristen mögen im Falkenspital einen weiteren Aspekt der „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“ sehen. Für Emiratis ist es hingegen der zeitgemäße Ausdruck der Liebe und Fürsorge für ihre Falken und andere Haustiere, die mittlerweile hier auch medizinisch versorgt werden. Es befindet sich auf dem höchsten Stand der Heilkunst in Wissenschaft und Technik, vermittelt jedoch eine familiäre Atmosphäre inmitten einer modernen Millionenstadt. In Dr. Müllers Worten:
„Abu Dhabi ist inzwischen eine richtige Hightech-Stadt, die unglaublich vibriert. Aber das bedeutet, dass alle Familien, die von Beduinen abstammen, in einer Zeitphase von 40, 50 Jahren von ihrem ursprünglichen Leben in der Wüste in eine hypermoderne Welt katapultiert wurden. Die zumeist weiblichen Falken dienen den Falknern als Bindeglied zu ihren eigenen Wurzeln, ihrer mit dem ursprünglichen Leben in der Wüste verbundenen Identität und ihren Werten. Viele gehen täglich – morgens und abends – zum Trainieren in die Wüste. Dort trifft man sich mit Freunden oder Cousins, sitzt zusammen, kocht Kaffee und diskutiert, wie gut der Falke gerade geflogen ist. Es bietet Raum für das soziale Miteinander über unterschiedliche Gesellschafts- und Einkommensschichten hinaus.“
Ob Familienmitglied oder nicht, birgt das Zusammenleben von Mensch und Tier im städtischen Umfeld Risiken, die ein Falkenspital dieser Größenordnung notwendig machen. Es sind wie bei Menschen eher die Gefahren von Haushaltsunfällen und schlechter Ernährung sowie die Zivilisationskrankheiten einer deutlich gestiegenen Lebenserwartung – nicht zuletzt aufgrund der erstklassigen medizinischen Versorgung –, die Falken zu Patienten machen. Mehr als 11.000 sind es pro Jahr. Selbst wenn eine Luxuslimousine ihren eigenen Falkensitz hat, sind Notbremsungen evolutionär noch nicht ganz ins Falkenprogramm eingeschrieben. Magenverstimmungen aufgrund verdorbener Nahrungsmittel sind ebenfalls höchst gefährlich und gehören zum Alltag von Dr. Müller wie Fußpflege und Voruntersuchungen:
„Medizinisch machen wir wirklich alles, von ganz normalen Routineuntersuchungen über Blutproben bis zu Röntgen, Endoskopie und komplizierten Operationen zum Beispiel bei gebrochenen Beinen oder Flügeln. Die Falken werden dann stationär aufgenommen, je nach ihrem Gesundheitsproblem: Wir haben ein Haus für orthopädische Fälle, ein Haus für bakterielle Infektionen, ein Haus für virale Infektionen, eines für Pilzinfektionen. All das funktioniert tatsächlich wie in einem normalen Hospital. Als Ärzte drehen wir unsere Runden zur Visite und die Krankenpfleger kümmern sich ständig um die Falken. Es gibt ein großes Labor zur Blutabnahme für sämtliche Tests. Innerhalb von einer halben Stunde habe ich das Resultat. Wir funktionieren wie ein normales Spital, nur die Patienten sehen halt anders aus mit ihren Federn und Flügeln, aber im Prinzip ist es ganz genauso wie ein Humanhospital.“
Die Falkendoktorin von Abu Dhabi kennen so gut wie alle Emiratis zumindest aus den Medien. Sie kümmert sich nicht nur um ihre geflügelten Patienten und deren sorgende Familienmitglieder, sondern auch um die Erhaltung bedrohter Falkenarten. Seit die VAE 2002 dem Washingtoner Artenschutzabkommen beigetreten sind, ist es nicht mehr erlaubt, wilde Falken der Natur zu entnehmen. Ein spezielles Zuchtprogramm für Sakerfalken (auch Würgfalken genannt) am ADFH soll die wilde Population vergrößern. Zudem existiert ein Auswilderungsprogramm für Falken, das noch vom großen Tierliebhaber Sheikh Zayed ins Leben gerufen wurde. Wilde Wanderfalken und Sakerfalken, die verletzt aufgefunden werden, erhalten zunächst die entsprechende Versorgung. Einmal pro Jahr werden sie dann nach Kasachstan oder Pakistan gebracht – in ihre ursprünglichen Brutgebiete –, um die wilde Population zu vermehren.
Für die Klinikvorständin Dr. Müller ist der Gedanke der weltweiten Zusammenarbeit – nicht nur zum Schutz der Falken – das vielleicht wichtigste Anliegen des ADFH. Auch dafür wurde ihr vom Kronprinzen und Vizepräsidenten der VAE, Sheikh Muhammed bin Zayed, bereits 2008 der Abu Dhabi Award verliehen, die höchste zivile Auszeichnung. Ihre Entscheidung, die Leitung des Falkenspitals zu übernehmen, sieht sie heute als goldrichtig an. Und meint damit vor allem ihre immaterielle Bereicherung: „Sie eröffnete mir eine unbekannte Welt und vermittelte mir ein ganz anderes Verständnis für Lebensart und Lebensweise in den Emiraten.“
Es erfüllt die Falkendoktorin und Buchautorin („Your Pet, Your Pill“) mit Genugtuung und Zuversicht, als Frau eine im sozialen Leben des arabischen Landes so wichtige Leitungsfunktion auszufüllen. Ihre Leidenschaft für die „Falcon World Tour“ erlaubt jährlich rund 20.000 Besucherinnen und Besuchern einen Ausflug ins „Reich der (Liebe für) Falken“.
Titelbild:
| Dr. Angelica V. Marte und Werner Zips (Alle Rechte vorbehalten)
Bilder im Text:
| Dr. Angelica V. Marte und Werner Zips (Alle Rechte vorbehalten)
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Angalica V. Marte und Werner Zips
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm