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Der Konsens in der Wissenschaft über den vom Menschen verursachten Klimawandel hat sich in den letzten Jahren gefestigt. Wie ist es unter diesen Umständen möglich, so fragen sich viele Wissenschaftler, dass diese Beweise nicht zu politischem Handeln und Verhaltensänderungen in allen Gesellschaften der Welt motivieren? Warum warten wir noch? Angesichts der außerordentlichen Gefahren, die der Klimawandel für die menschliche Zivilisation mit sich bringt, insbesondere durch extreme Wetterereignisse, scheint die Demokratie schnell zu einer unbequemen Regierungsform zu werden.
Der bekannte Klimaforscher James Hansen, der seit seiner einflussreichen Aussage vor dem US-Kongress im Jahr 1988 öffentlich Alarm wegen der globalen Erwärmung schlägt, fasste die allgemeine Frustration zusammen, als er 2007 behauptete, dass «der demokratische Prozess nicht funktioniert». In seinem 2009 erschienenen Buch «The Vanishing Face of Gaia» vergleicht James Lovelock, ein anderer wissenschaftlicher Mahner, den Klimawandel gar mit einem Krieg und betont, dass wir die Demokratie aufgeben müssen, um die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen. Eine weitere skeptische Stimme ist Daniel Kahneman, der auf die Mobilisierungsmöglichkeiten eingeht: «Eine weit entfernte, abstrakte und umstrittene Bedrohung hat einfach nicht die notwendigen Eigenschaften, um die öffentliche Meinung ernsthaft zu mobilisieren.»
Was aber ist die Alternative zur Demokratie? Eine aufgeklärte Führung? Das Konzept hat, gelinde gesagt, große Schwächen. Zunächst einmal kann und will die Wissenschaft nicht vorschreiben, was zu tun ist. Einer der grundlegenden Fehler im Porträt einer unbequemen Demokratie besteht darin, dass nicht erkannt wird, dass das Wissen über die Natur immer über die Politik (ob demokratisch oder autoritär) in die Gesellschaft einfließen muss – über Entscheidungen darüber, wie Harold Lasswell es berühmt formulierte, «wer was, wann und wie bekommt». Das Wissen darüber, wie solche Entscheidungen am besten zu treffen sind, ist den Wissenschaftlern nicht besonders zugänglich.
Die pessimistische Einschätzung der Fähigkeit des demokratischen Regierens, mit außergewöhnlichen Umständen umzugehen, impliziert gewissermaßen eine optimistische Einschätzung des Potenzials einer groß angelegten Sozialplanung. Das Problem liegt jedoch nicht in der Demokratie, sondern in der Komplexität des sozialen Wandels. Aus diesem Grund ist die Demokratie, so unbequem sie auch sein mag, nicht nur notwendig, sondern bei einer Herausforderung von der Größenordnung und Komplexität des Klimawandels sogar unerlässlich.
In weitaus größerem Masse als autoritäres Regieren ist demokratisches Regieren flexibel und in der Lage, aus politischen Fehlern zu lernen. Die Einschränkung individueller Freiheiten bei der Bewältigung ist nicht totalitär, wenn die Bürger mit demokratisch gesetzten Grenzen einverstanden sind.
Die Klimapolitik muss mit der Demokratie vereinbar sein, sonst wird die Bedrohung der Zivilisation größer sein, als es nur die Veränderung unserer physischen Umwelt ist. Gefragt ist deshalb nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Es geht um die Verbreitung von Wissen, um die Befähigung von Individuen, Gruppen und Bewegungen, die sich mit Umweltfragen beschäftigen. Demokratien werden neue, vielfältige Formen sozialer Solidarität und sozialer Verpflichtungen hervorbringen, die die lokalen und regionalen Kapazitäten zur Bewältigung des Klimawandels stärken und das Bewusstsein für soziale Interdependenz fördern.
Die Bemühungen um eine Vereinfachung des globalen Ansatzes zur Bekämpfung des Klimawandels durch ein einziges internationales Regelwerk haben bisher wenig gefruchtet. Es ist an der Zeit, demokratische Kreativität und Experimentierfreude zu fördern.
Dieser Artikel ist am 10. August unter dem Titel „Klimawandel, Demokratie und ungeduldige Gelehrte“ in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.
Titelbild:
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Bild im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. em. Dr. Nico Stehr
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm