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Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.
Wer hätte das gedacht: Was noch vor wenigen Wochen wie der langweiligste Wahlkampf seit Jahrzehnten aussah, entwickelte sich zum Ende hin zu einem spannenden Duell und die Auswirkungen des Wahlergebnisses bergen ein noch ergiebigeres Potenzial an Dramatik in sich. Dies beginnt mit der interessanten Frage, wer eigentlich der Sieger einer Wahl ist. Derjenige, der am Ende vorne liegt, aber vielleicht auch nur, wenn er wirklich deutlich vorne liegt? Und wenn das gilt, wie viel vorne ist dann deutlich vorne? Oder ist der der Sieger, der am stärksten zugelegt hat? Gilt das dann aber absolut oder relativ? Sind Gewinne oder Verluste im Vergleich zum vergangenen Wahlergebnis zu interpretieren oder zu den Erwartungen, die man zwischenzeitlich realistisch zu hegen können glaubte? Der Unterschied zwischen beiden Sichtweisen dürfte momentan insbesondere so manchem Grünen bitter aufstoßen.
Immer wieder erheiternd ist es, wie manche ihre seherischen Fähigkeiten zu erproben suchen, indem sie einen „Auftrag“ des Wählers aus dem Wahlergebnis herauslesen zu können meinen. Besonders merkwürdig wird es dann, wenn dieser „Auftrag“ dann noch von einem „moralischen“ Anspruch begleitet wird, eine Regierung bilden zu dürfen, den man entweder zu Recht erheben darf oder den man angeblich verwirkt hat. Das ist in diesem Kontext eine doch eher weithergeholte Kategorie, die bezüglich des demokratischen Entscheidungsprozesses fehl am Platz ist. Das gilt insbesondere in einem Verhältniswahlsystem. Letztlich kommt es einfach darauf an, ob man Mehrheiten für sich organisieren kann oder nicht. Jede Koalition, die aufgrund der Stärkeverhältnisse zwischen den Parteien möglich ist, ist insofern auch immer eine, die die Wählerentscheidung widerspiegelt.
Aber formal vorhandene Mehrheiten sind bei einer Wahl eben auch nicht alles, was zählt. Die psychologische Komponente darf nicht unterschätzt werden und sie schafft ihre eigenen Fakten und ihre eigene Dynamik, der sich die Kanzleraspiranten nicht entziehen können. Einem krachenden Wahlverlierer – und um den handelt es sich bei Armin Laschet ohne Zweifel – wird es von Seiten der Wähler als mangelnde Demut und Einsicht ausgelegt, wenn er es nicht verstanden hat, die „Botschaft“ der Wähler richtig zu deuten. Dies gilt selbst aus Sicht vieler Bürger, die ihn noch gewählt haben. Die Autorität des Wahlverlierers bröckelt und das verringert natürlich seine Handlungsfähigkeit und stärker noch seine Verhandlungsfähigkeit.
Wichtig ist daher ebenfalls, inwiefern eine Regierungsbildung durch einen Wahlverlierer die mittel- und langfristigen strategischen Optionen seiner Partei oder die der anderen Parteien beeinflusst. Die unverhohlenen Aufforderungen von Markus Söder an Armin Laschet, die Ambitionen für eine Regierungsbildung hintanzustellen und der SPD erst einmal den Vortritt zu lassen, dürften jedenfalls nicht gänzlich unbeeinflusst sein von den Zukunftsoptionen, die Söder noch offenstehen werden, je nachdem, ob Laschet Erfolg hat mit seinem Versuch, eine Koalition zu bilden oder nicht. Der Vorteil des einen Parteichefs muss keiner des anderen sein und vor allem muss ein mit letzter Kraft errungener Machtgewinn der Bundespartei sich nicht unbedingt günstig für die Situation der Parteigliederungen auf Ebene der Bundesländer auswirken. Das Wechselspiel von Interessen, dem sich Armin Laschet ausgesetzt sieht, ist äußerst komplex und so verwickelt und verdreht, dass man sich darin leicht verlieren kann. Dagegen ist die Situation für den Wahlsieger Olaf Scholz vergleichbar einfach und unkompliziert. Obwohl auch er nicht sicher sein kann, am Ende seine Ernte auch wirklich einfahren zu können.
Der Spielzug der beiden kleinen Koalitionspartner – die sowohl für die Ampel als auch für Jamaika benötigt würden –, erst untereinander zu verhandeln, bevor man sich auf Gespräche mit der dominierenden Kraft der zu bildenden Koalition einlässt, lässt hier Böses ahnen. Dieses Verhalten ist anmaßend und lässt auch eine gewisse demokratische Respektlosigkeit durchscheinen. Es ähnelt doch zu sehr der Weigerung von schlechten Verlierern, die Verhältnisse so anzuerkennen, wie sie nun mal sind, vor allem, da sich eine Vertreterin der kleinen Parteien wohl gerne selbst in der Position gesehen hätte, in der sich nach der Wahl nun aber mal Olaf Scholz befindet. Hier als einer der kleinen Partner dennoch zu beanspruchen, in den Lead zu gehen, führt erstaunlich ungebrochen genau die Selbstüberschätzung fort, deren überschäumende Exekution manche ja überhaupt erst in die Rolle des kleinen Partners gebracht hat. Die Schwierigkeiten von FDP und Grüne, sich in die Rolle zu finden, die die Wahl ihnen zugewiesen hat, sind daher nicht gerade beruhigend in Bezug auf die Schaffung von stabilen und belastbaren politischen Verhältnissen. Der Pflege der demokratischen politischen Kultur ist dies jedenfalls sicherlich nicht dienlich.
Die politische Kultur wird auch gefordert sein, wenn es um eines der wichtigsten Vorhaben geht, dem sich eine neu zu bildende Regierungskoalition widmen muss: der Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes. Denn wenn auch erst einmal substanzielle Themen wie der Klimawandel oder die Digitalisierung im Fokus der Aufmerksamkeit stehen werden, so ist das Wahlsystem in formaler Hinsicht das wichtigste Thema. Es ist der Kern der Demokratie, weil sich in ihm die Demokratie erst manifestiert. Ein Versagen des Wahlsystems ist daher ein Systemfehler der obersten Kategorie. Und um ein solches Versagen handelt es sich ohne Zweifel, wenn das pathologische Riesenwachstum des Bundestages sich ungebremst fortsetzt. Der neue Bundestag ist mit nun 735 Sitzen wieder der größte Bundestag aller Zeiten. Er ist immer noch das weltweit größte Parlament eines demokratisch regierten Nationalstaates und er ist nach dem chinesischen Volkskongress peinlicherweise das zweitgrößte Parlament überhaupt.
Tatsächlich hätte der Bundestag sogar leicht auf deutlich mehr als 800 Mandate anwachsen können und könnte das natürlich immer noch bei der nächsten oder übernächsten Wahl, wenn die fälligen Konsequenzen nicht endlich gezogen werden. Ein übergroßer Bundestag aber ist nicht nur teuer und Verschwendung von Steuermitteln; er führt zu einer Minderung der Funktionsfähigkeit des Parlaments und er fördert Politik- und Parteienverdrossenheit, weil die Bürger den Eindruck gewinnen, dass die Politiker es aus purem Eigeninteresse unterlassen haben, eine effektive Reform auf den Weg zu bringen. Hier besteht daher weiterhin dringlicher Handlungsbedarf und es ist zu hoffen, dass die neue Koalition das Vorhaben zur Parlamentsreform umsetzen wird, das einige der nun in ihr enthaltenen Parteien in der Opposition noch erfolglos versucht haben.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Joachim Behnke
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm