ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.
Die Ampel ist die erste Koalition im Bund seit 1961, die aus mehr als zwei Parteien beziehungsweise genau genommen aus mehr als zwei Fraktionen besteht. Dies spiegelt die fundamentale Veränderung des Parteiensystems im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wider. Die klassische Konstellation – eine große Partei mit einem kleinen Partner – steht aktuell nicht mehr zur Verfügung, weil die „großen“ Parteien eben nicht mehr so groß sind, wie sie es einmal waren. Mit 24,1 und 25,7 Prozent der Zweitstimmen erzielten die CDU/CSU und die SPD ihr schlechtestes Ergebnis beziehungsweise zweitschlechtestes Ergebnis in der Geschichte der BRD.
Insofern ist es nicht ganz falsch, wenn manche vom Ende der sogenannten Volksparteien sprechen, wenn man darunter Parteien versteht, die regelmäßig Ergebnisse mindestens im hohen 30er-Bereich erzielen. Es wäre aber völlig falsch, daraus abzuleiten, dass eine Partei grundsätzlich nicht mehr solche Ergebnisse erreichen kann. Kleiner geworden ist das Reservoir an Wählern der alten Volksparteien, die unabhängig von äußeren Ereignissen so oder so ihre Lieblingspartei wählen. Solche Wähler verfügen über eine sogenannte Parteibindung, die man als einen Sympathievorsprung oder systematischen Bias zugunsten einer bestimmten Partei betrachten kann, sodass diese Partei gewissermaßen die voreingestellte Wahlentscheidung darstellt. Dieser Bias ist aber eben nur ein Bias, er kann durchaus überwunden werden – etwa in Form attraktiver Spitzenkandidaten anderer Parteien oder der Wahrnehmung der besonderen Wichtigkeit von Themen, die von einer anderen Partei besonders glaubwürdig und kompetent vertreten werden. Dann kann die voreingestellte Parteienwahl der Wahl der aus diesen Gründen attraktiver erscheinenden Partei weichen. Wahlergebnisse sind daher inzwischen in starkem Maße durch das Merkmal der Wählervolatilität geprägt. Nicht alles ist drin und nicht für alle Parteien, aber doch immerhin ziemlich viel für einige.
Dies schien bei der vergangenen Wahl vor allem für die Grünen zu gelten. Denn ohne Zweifel spielten die Themen der Zeit so sehr in ihre Hände wie noch nie zuvor. Darüber hinaus trat die populäre Kanzlerin nicht mehr selbst an und die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD ließen es gelinde gesagt an der Fähigkeit fehlen, flächendeckende oder auch nur lokale Begeisterung zu wecken. Die Grünen bekamen, wie es der Wahlkampfmanager Frank Stauss ausdrückte, gewissermaßen einen Elfmeter hingelegt, den sie nur noch verwandeln mussten. Die irgendwie originelle, letztlich aber verhängnisvolle Idee der Grünen bestand nun aber darin, nicht ihren besten Elfmeterschützen zu nehmen, sondern diejenige, bei der sich die meisten Funktionäre darüber freuen würden, wenn sie zum Star des Spiels werden würde. Am Schluss erzielten die Grünen mit knapp 15 Prozent zwar das beste Ergebnis in ihrer Geschichte, angesichts der geschilderten äußeren Umstände aber gibt es eine starke Vermutung, dass die Grünen neben der CDU/CSU diejenigen sind, die ihr Potenzial bei dieser Wahl am dramatischsten verfehlt haben dürften.
Die allgemeine Wahrnehmung ist, dass die Grünen nach dem missglückten Wahlkampf nun auch in den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag kein glückliches Händchen bewiesen haben. Sogar unter den eigenen Anhängern gab im vergangenen Deutschlandtrend fast die Hälfte an, dass sich die FDP bei den Verhandlungen am meisten durchgesetzt hat, während nur ungefähr ein Sechstel fand, dass das für die eigene Partei zutrifft. Die unbestreitbaren Verhandlungserfolge der FDP scheinen jedenfalls eher proportional zum Ego ihres Vorsitzenden zu sein als zu ihrer in Stimmen messbaren Stärke. Vor allem die Aufgabe des Verkehrsministeriums reißt bei den Anhängern der Grünen tiefe Wunden, noch einmal verstärkt durch den bösen Verdacht, dass die Befriedigung des persönlichen Ehrgeizes der Parteispitze am Schluss für die Verteilung der Ministerämter gewichtiger war als das Anliegen des Kampfes gegen den Klimawandel. Gut möglich, dass die Grünen den Wahlkampf der Bundestagswahl 2025 schon 2021 verloren haben. Die SPD wie die FDP dürften dagegen alles aus ihrer Sicht Wichtige weitgehend umgesetzt haben.
Die Ampelkoalition weist eine Bandbreite der programmatischen Positionen der Partner und damit mehr Konfliktpotenzial auf, als es üblich ist. Das könnte sich aber womöglich sogar als Vorteil erweisen. Es gibt nämlich – außer in Bayern – keine einzige Landesregierung, in der nicht mindestens eine der Ampelparteien ebenfalls vertreten ist. Die üblichen Regeln der Konfliktbeilegung und Konfliktvermeidung könnten hier eine Kooperation zwischen Bund und Ländern sogar durchaus erleichtern beziehungsweise zumindest eine Duldung der Bundespolitik durch die Länder wahrscheinlicher machen.
Vieles ist schon am Beginn dieser Koalition schiefgelaufen und erstaunlich viel Dilettantismus war beim Zustandekommen der Ergebnisse mit im Spiel. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der vorliegende Koalitionsvertrag trotz aller Mängel in vielerlei Hinsicht das seit Jahrzehnten ambitionierteste Programm einer deutschen Bundesregierung ist. Man darf daher gespannt sein, wie sich diese Koalition schlagen wird.
Titelbild:
| Tsvetoslav Hristov / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bild im Text:
| SPD / Pressefoto (Alle Rechte vorbehalten) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Joachim Behnke
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm