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Ein Smartphone, das man bei AT&T in Kalifornien kauft, wird zwei oder drei Tage später freundlicherweise von einer Beraterin zum Haus des Kunden gebracht. Die erklärt einem dann eine knappe halbe Stunde lang, wie sich die Funktionen des neuesten Modells gegenüber dem vorher benutzten verändert und natürlich verbessert haben. Deshalb reagierte Sue, die kürzlich zu meiner Adresse delegierte AT&T-Mitarbeiterin, zunächst überhaupt nicht, als ich auf ihre Frage nach dem letzten Smartphone antwortete, dass sie mir gerade das erste meines Lebens in die Hand gedrückt habe.
Erst meine Unfähigkeit, ohne ihre Hilfe auch nur eine Telefonnummer zu wählen oder eine SMS-Botschaft zu versenden, gab den Worten konkrete Bedeutung. „Are you serious?“, stammelte sie, und die Unfassbarkeit einer Existenz ohne elektronisches Zentralorgan stand als Schrecken in ihr Gesicht geschrieben. Aus dem Schrecken wurde bald eine Art von anthropologischem Forschungsinteresse. Noch nie, gestand Sue, sei sie einem derart orientierungslos durch die Welt gehenden Erwachsenen begegnet wie mir.
Für diesen Sonder- und Notfall ließ sie sich schnell zwei volle Einführungsstunden zuweisen und bestaunte nun wie eine Archäologin, was sie als die Prothesen meiner Existenz auffassen musste: einen mit Tesafilm zusammengehaltenen Wecker, den ich auf Reisen mitnehme, die vierzig Jahre alte IWC-Armbanduhr („Porsche Design“), deren Zeiger ich nach Europaflügen stets neun Stunden in die Zukunft drehe, und ein Auto ohne Navigationsgerät als ungeahnten Höhepunkt.
Dann saß ich endlich allein meinem ersten Smartphone gegenüber und fühlte mich wie der Ingenieur Daniel Düsentrieb aus den Comics meiner Kindheit, der auf die Dienste eines kleinen Roboters mit Glühbirnenkopf setzte. Doch unsere elektronischen Geräte entsprechen nicht wirklich den kleinen oder großen Robotern aus vorelektronischen Utopien. Sie übernahmen im Leben ihrer Besitzer stets genau umschriebene Aufgaben.
Das Smartphone hingegen hatte ich nach dem Ende der Hoffnung, mit traditionellen Reiseweckern, aufziehbaren Schweizer Uhren und ohne Navigationsgerät bis ans Lebensende zu kommen, ja nicht etwa gekauft, um mir den Alltag leichter zu machen, sondern weil dieser Alltag anders kaum mehr zu bewältigen war. Schon meine eher spärlichen, aber unvermeidlichen Amazon-Bestellungen waren gesetzlich ungültige Verträge gewesen, solange ich die Box für die Handynummer mit erfundenen Zahlen füllte.
Ernster wurden die Probleme bei Grenzübergängen in Corona-Zeiten. Ein spanischer Beamter bestand darauf, die elektronische Version meiner Impfbescheinigung zu sehen (keine Begründung, warum das Papierformular nicht ausreichte), und für das zur Rückkehr in die Vereinigten Staaten notwendige negative Testergebnis standen im Frankfurter Flughafen keine Drucker zur Verfügung, so dass ich auf einen Minibildschirm angewiesen war. Ohne Fragen und ohne Warnung haben unsere Gesellschaften ihren Wirklichkeitsstatus an elektronische Medien gebunden. Wer nicht über sie verfügt, ist vom Alltagsleben ausgeschlossen.
Doch wie steht es mit den sogenannten „Assistenzsystemen“ und ihren immer leistungsfähigeren Versionen, denen ich jetzt als Klippschüler der Gegenwart zum ersten Mal begegne? Alexa, Deepfake, Apple Watch, Metaversum – sind sie nicht doch Roboter, die nur anders aussehen, als wir Neffen von Daniel Düsentrieb uns das vorgestellt hatten?
In den historischen Roboterfiktionen verweigerten die mechanischen Helfer manchmal ihren Dienst und übernahmen Rollen des Protests, wenn nicht der Unterdrücktenrevolte. Ähnliches haben uns die effizienten elektronischen Begleiter bisher nicht zugemutet. Lichtjahre vom Verstehen ihrer Konstruktion entfernt, habe ich mir sagen lassen, dass die Algorithmen, die sie treiben, 2012 die Schwelle des sogenannten Deep Learning überschritten haben. Das heißt, sie regeln ihre Funktionssteigerung selbständig, außerhalb menschlicher Kontrolle.
Dies genau war die damals schon nicht mehr bloß fiktionale Handlung des Films „Her“ mit Scarlett Johansson und Joaquin Phoenix aus dem Jahr 2013. Theodore Twombly, ein introvertierter Lohnschreiber von Geschäftsbriefen, verliebt sich in Samantha, die Stimme seines Assistenzsystems, wächst dank ihrer Zuwendung mit seinen Gefühlen und Texten weit über sich hinaus – um am Ende resigniert ins Leben unter den Menschen zurückzukehren, weil erotische Erfüllung mit einem Gegenüber ohne Körper unmöglich bleibt.
Wir mögen all jene neuen Potenziale des Erlebens erstaunlich finden und gelegentlich nach Roboterart benutzen, aber verschließen uns ihnen am Ende doch, solange wir glauben, in die vertraute Wirklichkeit zurückkehren zu können. Dass es Deepfake etwa schafft, den lebenden Bildern von bekannten Gestalten – Politikern zum Beispiel oder den Inhabern von Ämtern mit moralischer Autorität – Worte in den Mund zu legen, die sie kompromittieren, erfüllt uns mit Schadenfreude.
Allerdings nur für einen Moment, bis wir dann – zu Recht wohl und lautstark – gegen die eröffnete Tiefe von Manipulation und ihre Konsequenzen protestieren. Und während wir fasziniert die Masken und Virtual-Reality-Brillen ausprobieren, die elektronische Impulse in die Suggestion dreidimensionaler Präsenz überführen, fragen wir uns schon, ob in der Beschreibung eines so gestalteten Metaversums als nächster Stufe des Internets doch mehr als eine Marktstrategie der Herren vom Silicon Valley steckt.
Vor allem fehlt uns ein gemeinsamer Fluchtpunkt für all diese diffus wirkenden Erfindungen, der – wie bei guten Science-Fiction-Produkten üblich – eine kohärente andere Wirklichkeit erst vorstellbar macht. Deshalb scheuen wir Alten vor den meisten nach Spezialistenauskunft realistischen Zukunftsvisionen der elektronischen Technologie lieber zurück.
Der als Erbe der Aufklärung gefeierte kritische Reflex und die ganz grundsätzlichen Fragen unterscheiden uns von den unter Dreißigjährigen, die sich spielerisch und sehr individuell mit einzelnen Chancen von Veränderung umgeben, aber dazu keine Vision der neuen Wirklichkeit als Bezugsrahmen brauchen. Statt sich die Zukunft auszumalen oder auf verbindliche Prognosen zu warten, investieren sie ihre eigenen Kompetenzen und Optionen in die vor ihnen liegenden Jahre.
Politisch muss diese entspannte Einstellung zu jener Renaissance des Liberalismus im ursprünglichen Sinn des Wortes geführt haben, wie sie die Beobachter eben bei den deutschen Bundestagswahlen überraschte. Nicht die Verteidigung des Kapitalismus oder ein Engagement für Steuersenkungen scheint die Freien Demokraten zur Lieblingspartei der jungen Deutschen gemacht zu haben, sondern ihr Vorbehalt gegen staatliche Festlegungen einer Zukunft, die sich nicht in prägnante Konturen hochrechnen lässt. Die Attraktivität dieser Zukunft als Spielraum eines neuen Alltags haben Politiker und Meinungsforscher unterschätzt.
Aus Gesprächen mit Programmierern im fortgeschrittenen College- und Doktorandenalter dagegen nehme ich den Eindruck mit, dass es ihnen gerade um die Möglichkeit geht, am Ereignis und Erscheinen eines noch ganz unbekannten Phänomens beteiligt zu sein – was immer dessen Folgen sein mögen. Oft münden ihre Unterhaltungen in einen eigentümlichen Ton zwischen Mythos und Selbstironie.
Wenn eine in jeder Hinsicht dominante Maschinenintelligenz beschlösse, so hörte ich neulich eine KI-Spezialistin phantasieren, den Planeten Erde von der Menschheit zu befreien, dann könnte in noch fernerer Zukunft einmal die Frage auftauchen, wie es denn zur Existenz der neuen Planetenbewohner gekommen sei. Die wahrscheinlichste Antwort müsste uns Menschen, mit Aristoteles gesagt, den Status von „unbewegten Bewegern“ zuweisen, also einen göttlichen Status. Ein schwacher Trost gewiss, wenn man einmal so weit gedacht hat. Aber Trost braucht ja nur, wer sich die Zukunft ironiefrei vorstellt.
Dieser Artikel ist am 11. November unter dem Titel „Mein kleiner Roboter und ich: Wie ich ein Smartphone kaufte und zu verstehen begann, was mich von den unter Dreissigjährigen unterscheidet“ in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm