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Georg Jochum, geboren 1968 in Köln, studierte als Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln und schloss sein Studium 1993 mit der ersten juristischen Staatsprüfung ab. Im Jahr 1996 promovierte er zum Thema „Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie“, ein Jahr später folgte die zweite juristische Staatsprüfung, im Jahr 2003 habilitierte Jochum zum Thema „Die Steuervergünstigung“. Nach Tätigkeiten als Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen wurde er im Jahr 2007 zum außerplanmäßigen Professor an der Uni Konstanz ernannt. Im gleichen Jahr wurde Jochum Mitglied in der wissenschaftlichen Kommission der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes.
Zunächst ist eine Impfpflicht ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, die in Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) grundrechtlich geschützt ist. Ein solcher Eingriff ist verfassungsrechtlich auch grundsätzlich zulässig, da in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG festgestellt wird, dass ein Eingriff auf Grundlage eines Gesetzes in diese in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechte (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit) möglich ist. Allerdings müssen solche Eingriffe verhältnismäßig sein. Und hier wird die Impfpflicht gegen Covid-19 verfassungsrechtlich problematisch. Dies ergibt sich daraus, dass der Staat nicht berechtigt ist, in die Freiheit des Einzelnen zum Schutz des Einzelnen vor sich selbst einzugreifen. Der Staat muss zur Einschränkung von Grundrechten einen Gemeinwohlzweck verfolgen, also den Schutz der Allgemeinheit bezwecken.
Impfpflichten können solche Allgemeinwohlzwecke verfolgen. So ist das Ziel der Masernimpfpflicht, die Ansteckung anderer zu verhindern. Dies ist auch mit den vorhandenen Impfstoffen gegen Masern möglich, weil diese Impfstoffe zu einer Sterilisierung führen – das heißt Geimpfte werden mit dem Virus weder angesteckt noch können sie ihn weitertragen. Bei den Impfstoffen gegen Covid-19 ist dies nicht der Fall. Selbst dreifach geimpfte Personen können sich mit dem Virus anstecken und diesen weitergeben. Damit scheidet als Zielsetzung die Verhinderung einer Ansteckung von Vornherein aus. Die Zielsetzung, den Schutz der besonders gefährdeten Gruppen (Menschen über 50, mit Vorerkrankungen etc.) zu gewährleisten, kann auch keine Rechtfertigung für eine Impfpflicht darstellen, da die Infektiosität trotz der Impfung erhalten bleibt und die Impfung insofern nur die Vertreterinnen und Vertreter der besonders gefährdeten Gruppen selbst schützt.
Wer zu einer besonders gefährdeten Gruppe gehört und die Impfung verweigert, ist hierzu grundrechtlich berechtigt und es gibt kein öffentliches Interesse, jemanden vor einer eigenverantwortlich getroffenen Selbstgefährdung zu bewahren. Damit bleibt eigentlich nur die Zielsetzung, die auch bisher regelmäßig bei Maßnahmen im Zusammenhang mit Covid-19 angeführt wurde: nämlich die Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Dies ist ein Interesse des Allgemeinwohls, da die Bereitstellung eines funktionsfähigen Gesundheitswesens der allgemeinen Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger entspricht.
Die Impfpflicht muss allerdings im Hinblick auf diese Zielsetzung verhältnismäßig, das heißt geeignet, erforderlich und angemessen sein. Eignung bedeutet, dass die Maßnahme grundsätzlich in der Lage ist, das Ziel zu erreichen oder zu befördern. Erforderlich bedeutet, dass es keine milderen, gleich geeigneten Mittel gibt. Die Angemessenheit schließlich beinhaltet eine Abwägung zwischen der Schwere des Grundrechtseingriffes einerseits und der Bedeutung des öffentlichen Interesses andererseits.
Die Impfpflicht ist geeignet, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens zu bewahren. Die Impfstoffe bewirken einen sehr hohen Schutz gegen schwere Verläufe der Krankheit, was dazu führt, dass geimpfte Personen deutlich weniger in Krankenhäuser eingeliefert werden und noch weniger Gefahr laufen, auf Intensivstationen behandelt werden zu müssen.
Fraglich ist allerdings, ob sie erforderlich ist. Da die Impfstoffe nur eingeschränkt vor einer Infektion schützen, allerdings schwere Verläufe der Erkrankung zuverlässig verhindern, haben diese Impfstoffe einen vorbeugend therapeutischen Charakter. Daher ist die Impfung gegen Covid-19 – anders als bei Masern – nicht das einzige Mittel, sondern nur solange wirksame Therapeutika, die vor schweren Verläufen der Krankheit schützen, (noch) nicht verfügbar sind. Die ersten Medikamente gegen Covid-19, die ebenfalls schwere Verläufe zu 90 Prozent verhindern, sind ab Mitte des Jahres verfügbar. Dies bedeutet, dass ab Sommer die Möglichkeit besteht, zwischen den Therapien – vorbeugender Impfstoff oder nachsorgendes Medikament – zu wählen. Damit ist die Impfung nicht mehr das mildeste geeignete Mittel, die Erforderlichkeit einer Pflicht entfällt.
Solange Medikamente aber noch nicht verfügbar sind und die Impfung die einzige Therapie gegen schwere Verläufe und damit die einzige Möglichkeit ist, die Überlastung von Spitälern zu verhindern, ist eine Impflicht das mildeste Mittel, weil die Alternative, ein Lockdown, ein deutlich schwererer Eingriff ist. Sie ist auch angemessen, da die Impfung gut verträglich ist und die damit verbundene Schwere des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit angesichts der möglicherweise tödlichen Folgen von verschobenen oder nicht durchgeführten intensiv-medizinischen Eingriffen gering ist.
Wie so oft in dieser Pandemie ist es so, dass die Entwicklung über die rechtlichen Reaktionen hinweggeht. In dem Moment, in dem wirksame Therapien gegen schwere Verläufe vorhanden sind, ist die Impfpflicht unverhältnismäßig und verfassungswidrig.
Titelbild:
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Bild im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Georg Jochum
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm